Ein Mann (Luis Buñuel) steht am Fenster und schärft ein Rasiermesser. Am Himmel bewegt sich eine langgezogene Wolke auf den Vollmond zu. Der Mann setzt das Messer ans Gesicht einer jungen Frau. Die Wolke zieht vor dem Mond vorbei. Die Rasierklinge durchschneidet das Auge der Frau. Die schockierendste Szene der Filmgeschichte steht gleich zu Beginn des nur 16-minütigen Avantgarde-Kurzfilms EIN ANDALUSISCHER HUND, inszeniert in Frankreich von den beiden jungen Spaniern Buñuel und Salvador Dalí, die damit einen Film schaffen wollten, der schockieren, die etablierten Konventionen brechen und sich jeder Interpretation entziehen sollte. Buñuel erklärte später, der Film entstand aus der Begegnung zweier Träume: Er hatte geträumt, wie eine Rasierklinge ein Auge aufschlitzt, und Dalí hatte im Traum eine Hand voller Ameisen gesehen. Sie hatten dann beschlossen, einen Film daraus zu machen und dabei "erbarmungslos alles auszuschneiden, was etwas hätte bedeuten können." Ihr Film wäre "nichts anderes als ein Aufruf zum Mord."
Wenn wir der Legende glauben wollen, hatte sich Buñuel bei der Uraufführung in Paris, als er hinter dem Vorhang das Grammophon bediente, mit Steinen bewaffnet, mit denen er, falls das Publikum den Film ausbuhte, dieses bewerfen wollte. Doch die Premiere wurde zum Triumph, und EIN ANDALUSISCHER HUND zum wohl berühmtesten Avantgarde-Film der Welt. Ein Jahr später entstand DAS GOLDENE ZEITALTER, eine erneute Zusammenarbeit von Buñuel und Dalí, die sich diesmal schwieriger gestaltete: "Wir begannen mit der Arbeit. Aber nach zwei oder drei Tagen merkten wir, dass der Zauber vom ANDALUSISCHEN HUND verflogen war... Wir konnten uns über nichts einig werden. Jeder fand schlecht, was der andere vorschlug, und lehnte es ab." Ergebnis war ein von Buñuel allein vollendetes einstündiges Werk, das erneut provozierte, Tabus brach und gegen alles aufbegehrte, was Buñuel verachtete: Religion, die bürgerliche Gesellschaft und traditionelle Werte. Da erlaubt sich die Hauptfigur aus nichtigen Gründen, einen Blinden zu treten oder eine Dame zu ohrfeigen, ein Vater erschießt seinen Sohn, die Liebende lutscht die Zehe einer Statue, der Mann wirft neben anderen Gegenständen einen Bischof aus dem Fenster, und der Herzog von Blangis, Anstifter der mörderischen Orgie der "120 Tage von Sodom" stellt sich als niemand anderer als Jesus heraus. Der Film lief sechs Tage lang bei ausverkauftem Haus im "Studio 28" am Montmartre, nach Polemik der rechten Presse verwüsteten rechtsextreme Jugendliche das Kino, eine Woche später verbot der Polizeipräfekt von Paris kurzerhand weitere Aufführungen. Auch DAS GOLDENE ZEITALTER war ein provozierender, blasphemischer, nonkonformistischer Höhepunkt des Avantgarde-Films.
Beide Filme sind jetzt auf DVD erschienen, ferner findet sich im Bonusmaterial noch der mit vielen Interviews mit Buñuels Weggefährten bestrittene Dokumentarfilm A PROPÓSITO DE BUÑUEL (spanisch mit deutschen Untertiteln, das mit 99 Minuten längste Filmwerk auf dieser DVD), eine Co-Produktion unter anderem mit Arte, auch bereits veröffentlicht auf der Criterion-Collection-DVD von DER DISKRETE CHARME DER BOURGEOISIE. Zudem ist ein 12-seitiges Booklet beigefügt, mit Ausschnitten aus Buñuels Autobiografie "Mein letzter Seufzer". Sicherlich ein Muss für Filmhistoriker.
filmhistoriker.de,
edited by olaf brill.
Last update (this page): 24 Nov 2010.
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