Dies ist der Prachtband über Fritz Lang, herausgegeben anläßlich
der Fritz-Lang-Retrospektive auf der Berlinale 2001, die mitsamt einer Ausstellung
des Filmmuseums Berlin demnächst auf Tour geht: Berlin, Wien, Los Angeles,
Paris -- Langs vier wichtigsten Stationen. Es ist ein dickes Buch, dreisprachig,
mit umfassenden Informationen, Bild- und Textmaterial über jede Phase im
Leben des Mannes, der in Interviews immer betont hatte, man möge sich nicht
für sein Privatleben interessieren, sondern nur für seine Filme.
Die Herausgeber haben Langs Leben und Werk in ausführlichen Recherchen
einer gründlichen Revision unterzogen. Legenden, Gerüchte, Halbwahrheiten
und Vermutungen, von denen es in der Filmgeschichtsschreibung nicht wenige gibt,
und von denen Lang selbst einige gepflegt hat, werden mit den nüchternen
Fakten der Recherchelage konfrontiert. Alle relevanten Quellen werden geprüft
und meist auch benannt (ein paar Ausnahmen: Woher stammt die Information auf
S. 38, die Kinoleitung des Marmorhauses habe ohne Wissen Langs seinen Film HALBBLUT
(1919) gekürzt? Wo zugänglich ist das auf S. 31/32 zitierte Drehbuch
zu HILDE WARREN UND DER TOD (1917)?), und es wird auch gesagt, wo verläßliche
Aussagen fehlen oder die Recherche nicht erfolgreich war. Auch das ist Filmgeschichte:
Als Lang in den 1960er Jahren in Ostberlin war, sah er sich im Staatlichen Filmarchiv
der DDR einige seiner frühen Filme an. Dabei trug er sich auch in ein Gästebuch
ein. Es ist heute zwar im Bundesarchiv-Filmarchiv als Sammlungsstück verzeichnet,
aber nicht mehr auffindbar (S. 494/496).
Fritz Lang war "ein Mann, der sich und sein Leben inszeniert hat"
(S. 7), und so präsentieren die Herausgeber einige der berühmtesten
Lang-Legenden im Spiegel der Fakten: Hat Lang, wie er selbst erzählt hat,
vor dem I. Weltkrieg umfangreiche Europa- und Weltreisen unternommen? "Sie
lassen sich nicht nachweisen" stellen die Herausgeber nüchtern fest
(S.16). Ist Lang durch den Anblick New Yorks zu seiner Zukunftsvision in METROPOLIS
(1927) angeregt worden? "Im Juli 1924 kündigte die Ufa die Verfilmung
des Romans METROPOLIS von Thea von Harbou an. Fritz Lang und der Produzent
Erich Pommer fuhren im Oktober nach Amerika." (S. 104) Und schließlich,
ist Lang tatsächlich Hals über Kopf aus Deutschland geflohen, nachdem
Goebbels ihn eines Tages im Jahr 1933 zu sich gebeten und Lang die Führerschaft
über den nationalsozialistischen Film angeboten hat? In Tagebucheinträgen
von Goebbels findet sich kein Hinweis auf so ein Gespräch, und aus Langs
Reisepaß läßt sich eine überstürzte Abreise nicht
ableiten. "Allein er (Lang) hat diese Geschichte erzählt und verbreitet"
(S. 215). Derselbe Kommentar wäre übrigens auch im Essay über
Langs Mitwirkung am CABINET DES DR. CALIGARI (1920) angebracht gewesen
(S. 48-50). Dort geben die Herausgeber zwar die wesentlichen Quellen wieder,
verzichten aber darauf zu betonen, daß wir auch hier ausschließlich
Langs Wort haben, er sei 1. als Regisseur des Films vorgesehen gewesen und habe
2. die Anregung für die berühmte Rahmenhandlung gegeben. Der letzte
Satz, der sich auf das im Archiv des Filmmuseums Berlin verfügbare CALIGARI-Drehbuchexemplar
bezieht, ist sogar falsch: "(Das Ende der Rahmenhandlung, das im Drehbuch
fehlt) muß erst während der Dreharbeiten erfunden und hinzugefügt
worden sein." (S. 50) Es ist genauso gut möglich, daß im erhaltenen
Drehbuchexemplar ein paar Seiten fehlen, oder daß ein shooting script
mit dem Schlußrahmen existierte, das nach dieser Version aber vor den
Dreharbeiten geschrieben wurde.
Grundlage des Buches sind die Materialien im Archiv des Filmmuseums Berlin,
dem es 1997 gelungen ist, einen Teilnachlaß Langs zu erwerben, mit vielen
Briefen und Dokumenten hauptsächlich aus seiner amerikanischen Zeit ab
1934. Aber das ist bei weitem nicht alles: die Herausgeber präsentieren
nicht nur eigenes Archivmaterial, sondern stöberten in vielen Archiven
in Deutschland und überall auf der Welt und wurden fündig. Um nur
ein Beispiel zu nennen: Quelle eines Briefs Willy Leys an Lang von 1958, in
dem sich Ley an die Vorbereitungen zu FRAU IM MOND (1929) erinnert, ist
das Hermann-Oberth-Raumfahrt-Museum, Feucht (S. 134). Das Buch präsentiert
Texte von und über Lang, zeitgenössische Besprechungen seiner Filme,
Langs Briefwechsel mit Marlene Dietrich, Theodor W. Adorno, Oskar Schindler,
Volker Schlöndorff und Lotte Eisner (um wiederum nur einige herauszugreifen),
Filmfotos, Werkskizzen, Drehbuchauszüge, Filmplakate, Bilder von Langs
Wohnungen in Berlin und Hollywood, Faksimiles von Geburts- und Taufschein, Reisepaß,
FBI-Akten, Unterlagen von Standesamt und Universität, Verträge, Terminkalender,
Langs Kriegstagebuch von 1915, sein Notizbuch mit Drehbuchideen, Tagebucheinträge,
und immer wieder Briefe. Das meiste davon ist bisher noch nie veröffentlicht
worden, vieles jetzt überhaupt erst entdeckt. Das alles ist eine wahre
Fundgrube und wird vor allem für Forscher über Langs amerikanische
Zeit und die Exilgeschichte ein wertvoller Ausgangspunkt sein.
Wie beginnt man, so ein Buch zu lesen, das einen mit seiner Materialfülle
zu erschlagen droht? Zunächst einmal schaue ich mir an, was es über
mein spezielles Interessengebiet zu sagen hat: die frühen Filme Langs,
von seinen Anfängen als Drehbuchautor bis zu seiner siebten Regiearbeit
KÄMPFENDE HERZEN (DIE VIER UM DIE FRAU) (1921), kurz gesagt: alles
vor DER MÜDE TOD (1921), dem ersten Werk seiner "Meister"-Phase,
die bekannt und in der gesamten Literatur bereits gut dokumentiert ist. Diese
Vor-Phase ist erklärtermaßen nicht das herausragende Anliegen des
Buches, dennoch ist sie dokumentiert und ich finde auch dazu Texte und Bilder:
ein Essay über frühe Drehbücher, ein bißchen über
HALBBLUT und DER HERR DER LIEBE (beide 1919), seine Mitwirkung
an CALIGARI (siehe oben) und der HERRIN DER WELT (1919/20), etwas
mehr über HARAKIRI (1919), etwas weniger über DAS WANDERNDE BILD (1920) und KÄMPFENDE HERZEN (1921). Über die beiden
Teile seiner Abenteuerserie DIE SPINNEN (1919/20), die wohl bekanntesten
seiner frühen Filme, gibt es keinen Text, aber einen vierseitigen Bildteil.
Der Höhepunkt (für mich) ist die Starpostkarte von Gilda Langer auf
S. 41!
Der wohl interessanteste Text aus diesem Teil des Buches ist der Essay über
den "Fall Elisabeth Rosenthal", Langs erster Ehefrau, die im September
1920 in der gemeinsamen Wohnung in Berlin durch einen Schuß in die Brust
starb. Die Tatsache, daß über diesen Todesfall bisher wenig bekannt
war, hat zu weiterer Legendenbildung in der Filmgeschichtsschreibung geführt.
Zuletzt reimte sich der amerikanische Autor Patrick McGilligan in seinem Buch
"Fritz Lang, The Nature of the Beast" (1997) zusammen, daß Lang
selbst auf den Abzug gedrückt habe, um freie Bahn für die Affäre
mit seiner späteren zweiten Ehefrau Thea von Harbou zu haben (eine Darstellung,
die durch Georges Sturm überzeugend als sensationslüsterne Mischung
aus Halbwahrheiten, absichtlich falsch interpretierten Quellen und Spekulationen
widerlegt wurde, "The Lady Vanishes", FilmGeschichte, Newsletter der
Stiftung Deutsche Kinemathek Nr. 11/12, Mai 1998, S. 13-19). Leider hatte auch
Professor Cornelius Schnauber zu dieser Legendenbildung beigetragen. Er hatte
Lang in dessen letzten Lebensjahren gut gekannt und in seinem Buch "Fritz
Lang in Hollywood" (1986) die geheimnisvolle Bemerkung gemacht, es sei
"kaum möglich, das Werk Langs zu analysieren, ohne auf ein ganz wesentliches
Ereignis zurückzugreifen, das sich (...) am Anfang seiner Karriere zugetragen
hat." (S. 8) Lang und seine dritte Ehefrau Lily Latté hätten
dieses Ereignis ihm gegenüber nur ein einziges Mal angedeutet und als äußerst
vertraulich beschrieben, so daß Schnauber es sich versagt habe, darüber
zu schreiben -- eine Geste der Freundschaft dem Menschen Lang gegenüber.
Da Schnauber aber nicht nur als Freund Langs auftrat, sondern auch als Filmhistoriker,
der sich mit Lang befaßt, handelte es sich hier vor allem um die Anmaßung
eines privilegierten Erkenntniszugangs: ein Filmhistoriker behauptete, er besitze
eine Information über Lang, die er in seine Forschungen einfließen
lassen kann, aber anderen Forschern nicht zugänglich macht. Statt über
diese Information zu schweigen, betonte er ihre Wichtigkeit. Die naheliegende
Vermutung ist, daß Schnauber damals den Tod von Langs erster Frau meinte,
und jetzt tritt er neben Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen vom Filmmuseum Berlin
als Mitherausgeber des vorliegenden Buches auf, in dem der Fall doch aufgerollt
wird. Die Herausgeber tragen trocken die bekannten Fakten zusammen und haben
sogar neue Dokumente entdeckt, nach denen andere Forscher vergeblich gesucht
hatten, nämlich die Beerdigungs-Anmeldung für den Friedhof Weißensee,
die den Vermerk des Arztes "Brustschuß, Unglücksfall" trägt,
den vom Amtsgericht Charlottenburg ausgestellten Beerdigungsschein, und die
Bestätigung der polizeilichen Anmeldung der Beerdigung. Sie kommen zu dem
Schluß, daß eine Beteiligung Langs an dem Todesfall nicht nachgewiesen
werden kann (S. 59-64). Die weitgehend unbekannte Geschichte von Rosenthals
Tod, aber auch ihre Entmystifizierung durch die Detektivarbeit der Herausgeber,
hat dem Buch und der Fritz-Lang-Retrospektive im Vorfeld der Berlinale zu einiger
Publizität verholfen (z.B. Andreas Conrad: Fritz Lang vom Mordverdacht
freigesprochen. Der Tagesspiegel, Berlin 31.01.2001, S. 14).
Insgesamt erweckt der Teil des Buches über den frühen Lang einen recht
uneinheitlichen Eindruck, was wohl an dem unterschiedlichen Material liegt,
das den Herausgebern zur Verfügung stand. Es drängt sich aber die
Frage auf, warum eine Filmografie mit Inhalts- und Stabsangaben fehlt, insbesondere
da einige gerade der frühen Filme für die Retrospektive in neu restaurierten
Fassungen zur Verfügung gestellt wurden. Da hätte man sich gewünscht,
im großen Fritz-Lang-Buch mehr zu sehen (Fotos aus den Kopien!) und zu
lesen (z.B. auch über die Filmfunde und Restaurationsarbeiten). Ähnliches
wirft auch der Kritiker der F.A.Z. dem Buch vor: ein "Steinbruch"
sei es, eine "allzu wenig strukturierte Sammlung von Textfragmenten und
Bildern, die Material zu einer Studie über Lang bereitstellt, ohne selbst
eine zu sein." Aber ist das alles nicht kleinliche Kritik? Erstens sind
die Programmblätter, die auf der Berlinale vor dem CinemaxX 9 zu den Filmen
des jeweiligen Tages auslagen, als kleines Heft des Filmmuseums Berlin erhältlich
(Klaus Hoeppner (Red.): Fritz Lang, Programmblätter und Materialien, Filmografische
Daten, Kritiken und Informationen zu sämtlichen Filmen der Retrospektive
2001, 100 Seiten), und zweitens: Darf man einem Buch vorwerfen, daß es
etwas nicht enthält, was man sich persönlich gerne gewünscht
hätte? Darf man einem Krimiautor vorwerfen, man hätte lieber einen
Science-Fiction-Roman gelesen? Das kann nur sinnvoll sein, wenn entweder das
Buch seinen eigenen Anspruch nicht erfüllt, oder wenn dieser Anspruch offensichtlich
nicht hoch genug gesteckt war. Letzteres wäre z.B. der Fall, wenn jemand
versuchte, ein neues Fritz-Lang-Buch aus Texten aus Fernsehzeitungen oder aus
drei anderen Fritz-Lang-Büchern zusammenzustellen. Nicht nur liegt das
hier nicht vor, der Anspruch des Buches ist auch noch ein besonders ehrenwerter
und wird auch erfüllt: Präsentation des eigenen Archivmaterials und
möglichst vieler weiterer Quellen. Daß hier das eine oder andere
fehlt, was man sich auch noch wünschen könnte, kann man dem Buch schwerlich
vorwerfen. Vielmehr sei notiert, daß jetzt viele Quellen vorliegen, die
Ausgangspunkt sein werden für neue Recherchen, wissenschaftliche Abschlußarbeiten
und vielleicht weitere Entdeckungen. Die Quellen sind durch dieses Buch ohne
weiteres zugänglich, in jeder Filmbibliothek der Welt, und das ist ein
großer Schritt vorwärts für uns, die wir uns für Fritz
Lang interessieren.
Allenfalls zu beanstanden ist der auftrumpfende Stil des Presse-Waschzettels
zum Buch, der poltert und Phrasen drischt: "Es gilt, eine der wichtigsten
und schillerndsten Persönlichkeiten der Filmgeschichte in seinen Meisterwerken
und als Person neu zu entdecken", "wie so oft zeigt sich, dass das
reale Leben spannender war als alle geglätteten Legenden", usw. usf.
Aber das hat ein Verlagsvolontär geschrieben, der das für journalistisch
hält, und dessen Stil ist weit entfernt von dem der Buchautoren: "Der
Blick auf Fritz Lang kann nun erweitert werden." (S. 9) -- derart bescheiden
und leise kommen sie daher, wohl wissend, daß ihre Leistung keine großen
Worte braucht, um auf sich aufmerksam zu machen.
filmhistoriker.de,
edited by olaf brill.
Last update (this page): 21 Jul 2004.
The texts and images on this site are copyright © by the respective authors,
except where otherwise noted. Mostly, the items were published by kind permission,
but we were not able to find out all the copyright holders or their legal successors.
If you know about them, please let us know, especially if there's anything wrong
with publishing these texts or images. We do not intend to harm anyone's rights
and thought we best serve the purpose of understanding film and general history
displaying this source material and make it available for everyone.
If no author or source is noted, the texts are copyright © 1996-2006 Olaf
Brill.
Impressum Datenschutz