DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1920) Regional Code 2, silent with musical score, b/w (tinted), approx. 72 mins, English intertitles, Eureka Video, catalogue no. EKA 40022, released 18 Sep 2000 |
Der amerikanische Filmrestaurator David Shepard hat 1996 mit seiner Firma
Film Preservation Associates DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1920) neu
rekonstruiert, unabhängig von den beiden bereits bestehenden Farbrekonstruktionen,
die von europäischen Filmarchiven 1984 (Bundesarchiv-Filmarchiv) und 1996
(Project Lumière) vorgelegt wurden. Das besondere dieser amerikanischen
Variante ist ihre sofortige Verfügbarkeit für den Hausgebrauch, in
brillanter Bildqualität auf DVD, und die englischsprachige Rekonstruktion
der expressionistischen Zwischentitel, die "die drei Maler" Hermann
Warm, Walter Reimann und Walter Röhrig für die Originalfassung im
Stil des Films angefertigt hatten. Die Shepard-Fassung ist damit die definitive
englischsprachige Version, die Grundlage vieler Analysen des Films sein wird.
Ebenfalls auf der DVD: eine neue Musikfassung von Timothy Brock (erste Tonspur),
ein erstklassiger Begleitkommentar von Mike Budd (zweite Tonspur), eine kleine
Fotogallerie und Ausschnitte aus dem CALIGARI-Nachfolger GENUINE
(ebenfalls 1920), vielleicht als Appetithäppchen für eine künftige
Veröffentlichung.
David Shepard ist Träger des Mel-Novikoff-Preises 2000 für Verdienste
um den internationalen Film (den Enno Patalas 1999 gewann). Bereits in den 1970er
Jahren fertigte Shepard unter Mitwirkung von Fritz Lang eine Farbrekonstruktion
dessen zweiteiligen Abenteuerfilms DIE SPINNEN an (1919/20, inzwischen
auf Video und DVD erschienen), er arbeitete bei der Directors Guild of America,
dem American Film Institute, Blackhawk Films und seit 1986 seiner eigenen Firma
Film Preservation Associates, rekonstruierte Filme von Chaplin, Keaton, Murnau,
Griffith und vielen anderen, zuletzt Louis Feuillades zehnteilige Serie DIE VAMPIRE, einem der Vorbilder der SPINNEN (1915/16, 1998 in Amerika
auf Video, 2000 auf DVD erschienen) und Joe Mays DAS INDISCHE GRABMAL
mit Conrad Veidt (1921, 2000 in Amerika auf Video und DVD erschienen). Jetzt
arbeitet er an den Fritz-Lang-Filmen DER MÜDE TOD (1921) und DR. MABUSE, DER SPIELER (1922).
Grundlage seiner Caligari-Rekonstruktion ist eine russische 35-mm-Schwarzweiß-Kopie,
Lücken füllte er mit einer amerikanischen Kopie aus dem Archiv von
Blackhawk Films. Die entstandene Rekonstruktion enthält, soweit ich feststellen
konnte, genau das gleiche Bildmaterial wie die Bundesarchiv-Fassung, die etwas
kürzere Laufzeit der Shepard-Fassung ist darauf zurückzuführen,
daß die Zwischentitel kürzer gezeigt werden (beide Fassungen werden
mit einer Vorführgeschwindigkeit von 18 Bildern/Sekunde präsentiert).
Die Bildschärfe der DVD ist besser, und an manchen Stellen ist sogar die
von Shepard verwendete Vorlage besser als die der Bundesarchiv-Fassung. So fehlen
beim Kampf Janes mit Cesare in der Fernseh- und Video-Veröffentlichung
der Bundesarchiv-Fassung ein paar Einzelbilder, so daß der Kampf seltsam
abgehackt wirkt, während in der Shepard-Fassung die Einstellung vollständig
erhalten ist. Ebenso, als Franzis Jane (in einem Zwischentitel) erklärt,
ihr Entführer könne nicht Cesare gewesen sein, da dieser die ganze
Zeit unter Beobachtung stand. Jane entgegnet trotzig: "Und es war doch
Cesare!" (gut von Lil Dagovers Lippen abzulesen). In der Bundesarchiv-Fassung
fehlen auch hier ein paar Bilder, so daß es nur noch heißt: "...
doch Cesare!"
Die Farbgebung fertigte Shepard in Anlehnung an die Bundesarchiv-Fassung an.
Alle Szenen sind wechselnd monochrom eingefärbt, leider auch die beiden
Szenen, die in der Bundesarchiv-Fassung zweifarbig sind, in einer wilden Kombination
von chemischer Virage und Kolorierung (Beginn der Rahmenhandlung, und Franzis
erzählt Jane, daß Alan ermordet wurde). Das ist besonders schade,
da die ungewöhnliche Einfärbung gerade dieser Szenen ein Beispiel
dafür ist, daß die Viragierung Einfluß auf die Interpretation
eines Films haben kann: beide Szenen zeigen Franzis als Geschichtenerzähler.
Wir könnten sagen, die grelle Einfärbung ist ein Warnsignal, Franzis
nicht zu trauen, auch nicht, als er Jane innerhalb seiner Geschichte
erzählt, was er von Alans Ermordung weiß. Vielleicht war er
es, der seinen Nebenbuhler um die Ecke gebracht hat? Effektiver in der Shepard-Fassung
ist die Szene, in der Franzis und die Ärzte das Arbeitszimmer des Direktors
untersuchen, während dieser nachts schläft. Sie kommen herein, und
als einer der Ärzte das Licht anmacht, wechselt die Einfärbung von
blau (dunkel) zu gelb (hell). In der Bundesarchiv-Fassung ist das Bild unmittelbar
bevor die Gruppe das Zimmer betritt gelb, wird dann blau und beim Lichteinschalten
wieder gelb, was dem Farbwechsel ein Großteil seiner Wirkung nimmt. Shepard
färbt das Bild vor dem Hereinkommen konsequent blau ein, was wesentlich
besser aussieht.
Ein Problem der Shepard-Fassung ist, daß seine Vorlage einen störenden
Streifen am oberen Bildrand aufweist (der in der Bundesarchiv-Fassung nicht
auftaucht). Der Störstreifen ist in den 1920er Jahren entstanden, als die
Kopie angefertigt wurde, die Shepard verwendet. Damals gab es noch keinen festgesetzten
Standard dafür, wo ein Bild auf dem Filmstreifen beginne: zwischen oder
mitten auf den Perforationen am Rand des Streifens. Shepard erklärt, CALIGARI
sei mit einer schon damals veralteten Kamera aufgenommen worden, so daß
das Original-Kamera-Negativ den Bildanfang mitten auf den Perforationen hatte.
Beim Umkopieren war angenommen worden, der Bildanfang sei zwischen den Perforationen
(was nun der Standard ist). So ist ein zweiter Bildrahmen entstanden, der jetzt
als Störstreifen am oberen Bildrand erscheint (wäre beim Umkopieren
der Filmstreifen andersherum eingelegt worden, wäre er am unteren Bildrand).
Videofassungen, die auf solchen Vorlagen basieren, zeigen meist nur das Bild
unterhalb des Streifens. So sehen wir zwar keinen Störstreifen, aber es
fehlen Bildinformationen vom oberen Rand, z.B. Köpfe der Darsteller oder
Teile der Kulissen. Shepard dagegen ist den Film Szene für Szene durchgegangen
und hat entschieden, wann die Bildinformation vom oberen Rand unwichtig ist
und weggelassen werden kann, und wann sie wichtig ist und trotz Störstreifens
gezeigt werden sollte. So sehen wir bei Dr. Caligaris erstem Auftritt in Holstenwall
die kleine Kapelle im Hintergrund, und als der Direktor in seine Wahnvorstellungen
abgleitet, ist die Schrift zu lesen, die am oberen Bildrand erscheint: "Du
musst Caligari werden".
Shepards herausragende Leistung ist die Bearbeitung der Zwischentitel, die den
Film einem englischsprachigen Publikum in seiner ursprünglichen Gestaltung
erschließt. Shepard stand eine Videokopie der expressionistischen deutschen
Titel zur Verfügung. Er hat die Texte neu übersetzt, mit dem Computer
aus den Buchstaben einen Zeichensatz gebildet, die Hintergründe retuschiert
und seinen neuen englischen Text darauf gesetzt. Die Zwischentitel sehen blendend
aus, obwohl ihre Herkunft aus dem Computer klar erkennbar ist. Sie sind schärfer
und besser lesbar als die Titel der Bundesarchiv-Fassung, die manchmal von der
Einfärbung geradezu ertränkt werden und kaum zu lesen sind, besonders
in der Video- und Fernsehfassung. Die neue Übersetzung ist besser als die
anderer englischsprachiger Fassungen, ihr fehlt aber manchmal die sprachliche
Wucht des Originals.
Beispiel:
Original: "Ich will nicht eher ruhen, bis ich die furchtbaren Dinge, die
ringsum geschehen, begreife".
Übersetzung: "I won't rest 'till I have solved these horrible crimes".
Hier wird aus der Bewältigung einer unheimlichen und grausamen Welt, die
alles umgibt, die Lösung eines einfachen Kriminalfalls. Leider wurde auch
ein typischer Lesefehler nicht vermieden: Medizinalrat Olfen heißt in
der Shepard-Fassung Dr. Olsen (wegen der Schreibweise des "s" in altdeutscher
Schrift werden "s" und "f" oft verwechselt). Formal zu bemängeln
ist, daß die Rolltitel nicht rollen, sondern Shepard sie als Abfolge von
Standbildern präsentiert. Es fehlen der animierte Decla-Adler zu Beginn
des Films und die Titel, die Anfang und Ende der einzelnen Akte anzeigen. Jedoch
hat die Shepard-Fassung sogar einen Titel, der in der Bundesarchiv-Fassung fehlt,
bei min. 3:08: "The Annual Fair in Holstenwall". Der Titel "Jahrmarkt",
der auf der Zensurkarte auftaucht, steht in älteren deutschen Fassungen
in normaler Schrift (z.B. in der ZDF-Fassung von 1983, die auch schon die expressionistischen
Zwischentitel verwendet) und fehlt in der Bundesarchiv-Fassung, weil wohl keine
expressionistische Vorlage vorhanden war. Shepard hat für diesen Titel
einen neuen Hintergrund im Stil der anderen gemalt und für die Schrift
natürlich seinen Caligari-Zeichensatz verwendet. Zu bemerken ist noch,
daß Shepard bei den im Film zu sehenden Inschriften auf den Kulissen ("Mord
in Holstenwall 1000 Mk" und die Nahaufnahme von "Irrenanstalt")
deutschsprachige Fassungen verwendet, obwohl auch englische existieren, ebenso
bei den Einblendungen der Wahnvorstellungen des Direktors ("Du musst Caligari
werden" statt "Be Caligari").
Die Shepard-Fassung zeigt, daß Filmrestauration nur ein Geschäft
des Machbaren ist. Schwächen sind da, wo Shepard nur unterlegenes Material
zur Verfügung stand: die europäischen Archive hatten Zugriff auf eine
bessere Filmkopie (ohne Störstreifen), eine bessere Version der expressionistischen
Zwischentitel und haben mehr Aufwand bei der Rekonstruktion der Einfärbung
betrieben (insbesondere bei den beiden zweifarbigen Szenen). Shepard hat aber
das beste aus seinen Möglichkeiten gemacht, an manchen Stellen ein glücklicheres
Händchen gehabt, und die definitive englischsprachige Fassung des Caligari-Films
vorgelegt. Brauchen wir eine solche Fassung eines deutschen Stummfilm-Klassikers?
Ja, denn ein Großteil der Literatur stammt aus dem englischen Sprachraum,
und die meisten Autoren, Forscher, Fans und Studenten, die sich überhaupt
für deutschen Stummfilm interessierten, sprechen nur englisch. Die Shepard-Fassung
dürfte daher Grundlage für viele Forscher werden, denen die deutschen
Quellen überhaupt nicht zur Verfügung stehen, und erhält damit
eine herausragende Stellung in der Rezeptionsgeschichte des Caligari-Films.
Shepards Fassung ist auch die beste für den Hausgebrauch erhältliche.
Sie wurde gleich nach der Fertigstellung 1996 von Image Entertainment in Amerika
auf Laserdisc veröffentlicht, dann 1997 ebenfalls von Image Entertainment
in Amerika auf dem neuen Medium DVD, und 2000 von Eureka Video in Europa auf
DVD. Die DVD bietet größtmöglichen Komfort beim Anschauen und
Analysieren. Die Bildqualität ist besser als bei allen bisher erschienenen
Videofassungen. Das Bild ist schärfer und Details besser zu erkennen (z.B.
die englische Aufschrift, als Dr. Caligari die Irrenanstalt erreicht: "Insane
asylum"). Außerdem enthält die DVD eine Reihe von Extras. So
sind zwei Tonspuren wählbar: 1. eine neue Musikfassung von Timothy Brock,
und 2. ein Kommentar des amerikanischen Filmhistorikers Mike Budd, der ein wichtiges
Buch über CALIGARI herausgegeben hat, The Cabinet of Dr. Caligari:
Texts, Contexts, Histories (1990). Budds Text, größtenteils eine
vereinfachte Fassung seines Texts The Moments of Caligari aus soeben
erwähntem Buch, führt uns mit allerlei Hintergrundinformationen in
sauber gesprochenem, gut verständlichen Englisch durch den Film. Er hebt
hervor, daß der Film aus zwei unterschiedlichen Strömungen hervorgeht,
deren Aufeinandertreffen ihn so besonders interessant machen: 1. die konventionelle,
am Massenmarkt orientierte Erzähltradition, und 2. die künstlerische,
nichtkommerzielle Tradition. Während die Handlung des Films im konventionellen
Stil erzählt ist, orientiert sich die expressionistische Ausstattung an
der künstlerischen Avantgarde. Nach einer längeren Einleitung, die
man auch hören könnte, ohne den Film nebenbei zu sehen, analysiert
Budd einige Einstellungen im Detail und trifft damit genau.
Ebenfalls auf der DVD ist eine Fotogalerie, die mit sechs Bildern recht mickrig
ausgefallen ist. Darüber hinaus sind die meisten Bilder (Werbeanzeigen
der amerikanischen Uraufführung 1921) schon in Budds Buch abgedruckt worden.
Hier hat die CD-ROM des Kinematheksverbunds Die deutschen Filme vor kurzem
wesentlich besseres geboten. Dafür entschädigt aber völlig ein
ca. 3minütiger Ausschnitt aus GENUINE mit Musik von Robert Israel:
GENUINE, jenem CALIGARI-Nachfolger, den die Decla, auf der Welle
des expressionistischen Films reitend, noch 1920 produzierte. Er wurde in der
Fachpresse mit einem an die legendäre Caligari-Kampagne erinnernden Werbefeldzug
beworben, Regie führte wieder Robert Wiene, das Drehbuch schrieb Carl Mayer,
und die Stars waren Fern Andra und Hans Heinz von Twardowsky. Der Film galt
lange Zeit als praktisch nicht erhalten. Die DVD präsentiert zwei kurze
Szenen in schwarzweiß, in einer so bestechenden Qualität, daß
klar ist, was wir uns von den Film Preservation Associates als nächstes
wünschen: GENUINE in voller Länge auf DVD! Dieser Wunsch richtet
sich natürlich auch und vor allem an die europäischen Filmarchive,
die sich bei Videoveröffentlichungen ihres Materials bisher sehr zurückgehalten
haben: Warum eigentlich? So sind im Rahmen des Project Lumière z.B. neue
Rekonstruktionen von CALIGARI, GENUINE, DAS INDISCHE GRABMAL
und vielen anderen interessanten Stummfilmen entstanden, die bisher praktisch
nur Fachleuten bekannt gemacht worden sind, die bereit sind, weite Reisen in
Kauf zu nehmen, um die Filme auf Festivals zu sehen oder in den Archiven zu
sichten. Es gibt aber eigentlich keinen vernünftigen Grund, diese Schätze
nicht auch Filmfans in aller Welt zugänglich zu machen.
filmhistoriker.de,
edited by olaf brill.
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