Alfred Hitchcock muss man niemandem mehr vorstellen. Als visueller und daher besonders "filmischer" Regisseur von Truffaut und Rohmer verehrt, als Gruselspezialist und "Master of Suspense" bekannt, wird nicht nur sein filmischer Stil, sondern auch sein Aussehen überall auf der Welt sofort erkannt. Zu dieser Präsenz haben nicht nur seine Kurzauftritte in den eigenen Filmen beigetragen und die vielen Interviews, in denen er als dicker Cockney mit der größten Selbstverständlichkeit übers Filmemachen genauso wie über Mord und Totschlag spricht. Einen großen Anteil an der Bekanntheit von Hitchcock in der Öffentlichkeit hat auch die von ihm überwachte und unter seinem Namen gelaufene Fernsehserie "Alfred Hitchcock presents", die ab 1955 zehn Jahre lang produziert wurde und in dieser Zeit weit über dreihundert Episoden hervorgebracht hat. Schon mal fünfundvierzig davon sind jetzt auf DVD erschienen.
Jede Episode begann mit der berühmten, nun mit Hitchcock assoziierten Melodie "Trauermarsch einer Marionette" von Charles Gounod. In die mit ein paar Strichen von Hitchcock selbst gezeichnete Karikatur seines Profils schiebt sich im Takt der Musik von rechts Hitchcocks Schatten in die Strichzeichnung. Dann hebt der Meister zu einer seiner wundersamen Moderationen an, mit denen er den Film der Woche umrahmte. Oft geschieht dies in absurden Situationen, zum Beispiel in einem Hühnerstall, als kleines Männchen in einer Hundehütte, mit einer Meerschaumpfeife als Sherlock Holmes posierend, zusammen mit einem leibhaftigten Löwen, oder gefesselt auf Schienen liegend mit dem Kommentar, dass der Zug laut Fahrplan in der nächsten halben Stunde nicht kommen sollte, so dass wir uns getrost die kommende Episode angucken können. Es kann auch vorkommen, dass Hitchcock mit einem Regenschirm in der Hand ins Bild kommt und den Zuschauer bittet, mal auf dem Fernseher nachzuschauen, ob sich da nicht ein Goldfischglas mit einem Sprung befindet. Ideen und Texte für diese skurrilen Moderationen stammten von Jerry-Lewis-Autor James Allardice, von dem unter anderem auch der Text zu dem fünfeinhalbminütigen PSYCHO-Trailer stammt, in dem (fast) keine Filmausschnitte gezeigt werden, sondern Hitchcock den Zuschauer durch die grausigen Drehorte seines neuesten Films führt (befindet sich als Extra in Box 1). Auch ein paar süffisante Worte für die obligatorischen Botschaften der Sponsoren lässt Allardice Hitchcock immer sagen, und wenn der Mörder mal wieder davongekommen war (was oft geschah), versichert Hitchcock den Zuschauern hinterher mit einem Augenzwinkern, dass er später doch seine gerechte Strafe erhielt. Denn wir schauen den Mördern zwar gerne bei ihren grausigen Taten zu, doch: "Crime does not pay."
"Alfred Hitchcock presents" lief ab 1955 zunächst mit Episoden von jeweils 25 Minuten Länge, ab 1962 unter dem Titel "The Alfred Hitchcock Hour" mit 45-minütigen Episoden. In Amerika war die Serie zuerst bei CBS zu sehen, später bei NBC. In Deutschland zeigte die ARD ab 1959 nicht einmal ein Zehntel der Serie, so dass nur etwa dreißig Episoden auch in deutsch synchronisierter Fassung vorliegen. Ab 1999 liefen im Dritten Fernsehprogramm weitere Episoden in deutsch untertitelter Version. Die nach Hitchcocks Tod in den Achtzigern entstandene Nachfolgeserie unter gleichem Titel, in Farbe und zum Teil mit Remakes alter Stoffe, lief bei RTL. Bei der jetzt bei Koch Media herauskommenden DVD-Ausgabe handelt es sich nicht um Veröffentlichungen einzelner Staffeln, sondern um ein "Best of", bei dem zu hoffen ist, dass eben doch nach und nach alle restlichen Episoden nachgereicht werden. Zu befürchten ist jedoch, dass die Veröffentlichung irgendwann abbricht. So sind beispielsweise schon jetzt in den ersten beiden Boxen fast alle deutsch synchronisierten Episoden veröffentlicht, und fast alle Episoden, in denen Hitchcock selbst Regie geführt hat. Auch auf Chronologie wurde in keiner Weise Rücksicht genommen. So findet sich zum Beispiel die erste Episode der Serie überhaupt erst in Box 2: Eine "Rache"-Geschichte mit Ralph Meeker (bekannt als Mike Hammer aus Robert Aldrichs RATTENNEST) und Vera Miles (bekannt aus Hitchcocks PSYCHO): Ein Mann versucht den Täter zu bestrafen, der seine Frau überfallen und in einen Schockzustand versetzt hat. Regie natürlich: Alfred Hitchcock.
Hitchcock, der während der Laufzeit der Fernsehserie auf dem Höhepunkt seiner Popularität war und neun Spielfilme drehte, darunter VERTIGO, DER UNSICHTBARE DRITTE, PSYCHO, DIE VÖGEL und MARNIE, führte bei etwa zwanzig Episoden selbst Regie und unterwarf sich dafür den Produktionsbedingungen des Fernsehens, bei dem eine vollständige Episode meist in wenigen Tagen abgedreht sein musste. Natürlich haben Hitchcocks eigene Episoden noch einmal ein besonderes Flair, zum Beispiel die berühmteste Episode der Serie, die sich in Box 1 befindet: "Mordwaffe: Lammkeule" nach einem Drehbuch von Roald Dahl, in der Barbara Bel Geddes (VERTIGO) eine Ehefrau spielt, die ihren Mann mit einer gefrorenen Lammkeule erschlägt und diese anschließend den Polizeibeamten serviert, die nach der Mordwaffe suchen.
Überhaupt sind in allen Episoden natürlich immer wieder Schauspieler zu sehen, die wir aus anderen Hitchcock-Filmen kennen. Um nur einige zu nennen: Martin Balsam (PSYCHO), Oskar Homolka (SABOTAGE) und Jessie Royce Landis (DER UNSICHTBARE DRITTE). Gleich mehrfach tritt Hitchcocks "Lieblingsinspektor" John Williams aus BEI ANRUF MORD auf, und auch Hitchcocks schauspielernde Tochter Pat, bekannt zum Beispiel aus DER FREMDE IM ZUG, ist in der Fernsehserie mehrfach zu sehen (z. B. in Box 2, "Ohne jede Spur"). Joseph Cotten, Star in CITIZEN KANE und DER DRITTE MANN und "Onkel Charlie" in Hitchcocks IM SCHATTEN DES ZWEIFELS, ist in zwei Episoden dabei: In "Auf immer und ewig" als Mörder, der mit der Leiche seines Opfers im Büro eingeschlossen wird (Box 1, Regie: Robert Altman) und in "Scheintot" als Scheintoter, der verzweifelt versucht, sich seiner Umwelt bemerkbar zu machen (Box 2, Regie: Hitchcock). Auch Claude Rains aus CASABLANCA und Hitchcocks BERÜCHTIGT hat zwei Fernsehauftritte, die beide in Box 2 enthalten sind: "Der Pferdespieler" und "Und so starb Riabouchinska". In letzterer Episode spielt Rains einen Bauchredner, der in seine Holzpuppe verliebt ist. Die Story stammt von Ray Bradbury, den Inspektor spielt Charles Bronson und die Stimme der Puppe spricht Virginia Gregg, die in PSYCHO die Stimme der Mutter gesprochen hat.
So bekommen wir in "Alfred Hitchcock präsentiert" sowohl viele Schauspieler zu sehen, die damals schon große Filmstars waren, als auch solche, die später noch welche werden würden und hier erste Fernsehauftritte absolvieren. Um aus diesen beiden Gruppen wiederum nur einige zu nennen: Steve McQueen, Peter Lorre, George Peppard, Burt Reynolds, Walther Matthau, Vincent Price, Bette Davis, Roger Moore, William Shatner und Robert Redford, letzterer als angeschossener Räuber auf der Flucht in der Episode "Die richtige Medizin", die in Box 2 enthalten ist. Als Regisseure wirken unter anderem Robert Altman und Paul Henreid mit, Drehbücher stammen unter anderem von Henry Slesar, Roald Dahl, Ray Bradbury und Robert Arthur (Box 1, "Scheidung auf amerikanisch"), letzterer besser bekannt als Erfinder der "drei ???", die Hitchcocks Namen und Konterfei auch im Jugendbuch-Sektor bekannt gemacht haben.
Die Geschichten waren Kurzkrimis mit meist makabren Pointen, manchmal Varianten bekannter Stoffe, von ARSEN UND SPITZENHÄUBCHEN (Box 1, "Das gute Geschirr") über DAS FENSTER ZUM HOF (Box 2, "Der geheimnisvolle Nachbar") bis zu EINE DAME VERSCHWINDET (Box 2, "Ohne jede Spur"), und manchmal sogar Ausflüge in die Science Fiction der Fünfziger Jahre: So treffen wir in der Episode "Eine Marionetten-Bescherung" nach Ray Bradbury einen Mann, der, um von seiner Frau loszukommen, sich selbst von einer Marionette ersetzen lässt, und in "Geschichten, die das Leben schreibt" nach Fredric Brown spielt Steve McQueen einen Reporter, der auf einen Mann trifft, der sich für einen Marsmenschen hält. Beide Geschichten halten ein böses Ende parat. Allerdings ist das natürlich immer eine Sache der Perspektive: Aus der Perspektive eines Mörders etwa ist es ja wohl kaum ein böses Ende, wenn der Mörder am Ende entkommt oder sogar die Gelegenheit bekommt, immer weiter zu morden. Und eine Garantie für Happy Ends gibt es bei Hitchcock gewiss nicht (obwohl auch das gelegentlich vorkommt).
Box 1 enthält als Extras lediglich ein paar deutsche Trailer zu Hitchcock-Filmen, in denen der Meister teils von anderen Sprechern synchronisiert wird (DIE VÖGEL, FRENZY), teils selbst deutsch spricht (MARNIE, PSYCHO). Box 2 enthält neben einer kurzen aber informativen Dokumentation und deutsch synchronisierten Anmoderationen zu "Alfred Hitchcock präsentiert" noch zwei Fernsehfilme, bei denen tatsächlich Hitchcock Regie geführt hat: Eine Episode der Serie "Ford Startime Theater" mit Vera Miles und George Peppard (1960, Farbe) und als besonderen Leckerbissen den Pilotfilm der Serie "Suspicion" mit E. G. Marshall in einer klassischen Suspense-Situation: Ein Uhrmacher baut eine Bombe, um seine Frau in die Luft zu sprengen. Im Keller macht er die Bombe scharf, doch bevor er vom Tatort verschwinden kann, wird er überfallen und gefesselt.
Auch die übrige Ausstattung der DVD-Boxen ist vorbildlich: So ist etwa der seit kurzem vorgeschriebene übergroße Hinweis auf die FSK-Freigabe nicht direkt auf dem DVD-Schuber, sondern auf der Plastikfolie untergebracht und kann leicht entfernt werden: Gute Idee! Und als Beilage -- nicht etwa als Bonusmaterial auf den DVDs selbst -- gibt es kleine Heftchen mit fachkundigen Episodenführern von Markus Jüngling, die hervorragend zur Episodenauswahl geeignet sind. So macht man das.
Insgesamt bieten die beiden nun erschienenen DVD-Boxen über zwanzig Stunden Material. Und das ist auch nötig, denn das Anschauen dieser Fernsehserie macht süchtig. Aber seien Sie gewarnt: die Melodie "Trauermarsch einer Marionette" bekommen Sie danach erstmal nicht mehr aus dem Kopf.
filmhistoriker.de,
edited by olaf brill.
Last update (this page): 20 Sep 2009.
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