Hans Janowitz: Jazz Bonn: Weidle Verlag 1999 144 pages, German text with an audio CD, approx. 70 mins. ISBN 393113542X |
"Ein europäischer Chronist im Jahre 1999, der die Zeit um 1925 schildern wollte, hätte zu beginnen: Es war die Zeit des "Bubikopfes", es war die Zeit des "kurzen Rockes", der "fleischfarbenen Strümpfe", es war die Zeit der fortgelaufenen Söhne und entführten Töchter, es war die Zeit, da die Vaterländer, statt Gut und Blut von ihren armen Teilnehmern zu fordern, wie in den mörderischen Jahren 1914-1918 (da man fürs Vaterland nicht nur sterben durfte, sondern auch morden mußte), sich mit dem Hab und Gut der dem Weltkrieg entronnenen Steuersubjekte zufrieden gaben" ... usw.
-- so schwungvoll beginnt Hans Janowitz' Roman Jazz, der 1927 im Berliner Verlag Die Schmiede erschien. Und schwungvoll geht es weiter, in einer Reihe lose verbundener Episoden um fünf Jazz-Band-Boys, entzückende Mädchen in fleischfarbenen Strümpfen, einen verrückten Russen, der gerne tote Frauen zeichnet, ein Girl namens So-etwas (wie in: "Mein Gott, mit So-etwas muß man sich zeigen!") und vieles andere, mit Umwegen, Irrwegen, Abkürzungen und zufälligen Wiedersehen. Der Roman ist selbst aufgebaut wie ein Jazz-Stück, mit mehr oder weniger nahen Improvisationen und Abweichungen zu einem vorgegebenen Thema. Ein leichtes Stück, getragen von der Musik des Jazz und dem Hauch der Zwanziger Jahre. Der Autor Hans Janowitz, der die Schrecken des I. Weltkrieges gesehen hatte, 1920 mit Carl Mayer das Drehbuch zu dem Film DAS CABINET DES DR. CALIGARI schrieb, und zum Zeitpunkt da dieser Roman erschien, ins tschechoslowakische Podebrad zurückgekehrt war, um nach dem Tod seines Vaters dessen Ölmühle zu übernehmen, besichtigt hier sein Zeitalter, und der Rhythmus der Zeit hieß: Jazz! (Bevor die Nazis kamen, die Tschechoslowakei besetzten, einen Großteil von Janowitz' Familie auslöschten, ihn selbst ins Exil nach New York trieben, und Europa und später die Welt in Angst und Schrecken versetzten.)
Der Roman ist natürlich für Filmwissenschaftler interessant, weil Janowitz als einer der beiden CALIGARI-Autoren eine zentrale Figur der Filmgeschichte ist, obwohl er nach CALIGARI (im Gegensatz zu Carl Mayer) keine bedeutenden Filme mehr gemacht hat. Janowitz' Bedeutung besteht unter anderem auch in seiner Rolle als Erzähler von Legenden um die Entstehungsgeschichte des Caligari-Films. So hat er später unter dem Eindruck von Holocaust und Weltkrieg immer wieder behauptet, sie hätten mit ihrem CALIGARI vor Krieg und Tyrannei warnen wollen und die Schreckensherrschaft der Nazis prophetisch vorausgesehen. Siegfried Kracauer machte daraus die These, die kollektive Sehnsucht der Deutschen, die sich nach einem Tyrannen wie Hitler sehnten, zeige sich bereits 1920 im Caligari-Film (From Caligari to Hitler, 1947). In Jazz ist davon nichts zu spüren. Auch dort kommt Dr. Caligari vor, "unser närrischer Psychiater": "Die Welt war nicht gerade Caligari, aber Jazz war sie geworden, gründlich Jazz geworden." schreibt Janowitz 1927 (S. 8 der Weidle-Ausgabe). Hier hat er keine dunkle Vorahnung, sondern beschreibt eine wunderbar verrückte Zeit. Der Roman ist ein für die Filmgeschichte wichtiger Text, weil er Janowitz' wahre Stimmung in den Zwanziger Jahren wiedergibt.
1999 gab der Weidle-Verlag diesen vergessenen "Roman des XX. Jahrhunderts" neu heraus, als "europäischer Chronist", der tatsächlich aus dem Jahr 1999 zurück blickt auf die Jazz-Zeit um 1925. Das Buch ist wunderschön geworden, Janowitz wäre angesichts dieser Neuausgabe vor Stolz geplatzt (und hätte wahrscheinlich gedacht, er bekäme jetzt endlich die ihm zustehende Anerkennung als Autor, was man nach der dürftigen Rezeption des Weidle-Buches allerdings nicht sagen kann).
Der eher dröge Satz der Originalausgabe aus dem Verlag Die Schmiede wurde snappy aufgepeppt, mit Kapitelnummern am Seitenrand und fettgedruckten Anfangssätzen der Kapitel. Und wenn Janowitz schreibt: "Das wahre Programm der Zeit hieß: Jazz", dann steht "Jazz" da auf S. 7 in großen fetten Buchstaben (vgl. S. 10 der Schmiede-Ausgabe). Und die Ausstattung des Buches kann sich sehen lassen: ein schönes Umschlagbild von Archie Rand, ein informatives Nachwort von Rolf Rieß, einem Forscher, der sich schon verschiedentlich mit Janowitz auseinandergesetzt hat (am gründlichsten in Filmexil Nr. 7, Dezember 1995), und dann der Knüller: das Buch enthält als Gimmick eine Jazz-CD mit Stücken aus der Zeit, die Janowitz beschreibt, zusammengestellt (und im Buch kommentiert) von Viktor Rotthaler. Deutscher Jazz ist zu hören, und natürlich amerikanischer, der nach Deutschland rübergeschwappt ist. Die ganz Großen sind dabei wie Duke Ellington, Louis Armstrong und Josephine Baker, der unvermeidliche Friedrich Hollaender & seine Weintraub Syncopators, der Tenor Richard Tauber (Harry Liedtkes "Stimm-Double" in ICH KÜSSE IHRE HAND, MADAME (1929), hier mit "Schöner Gigolo") und Janowitz' Weggefährtin Trude Hesterberg, mit der er 1921 in Berlin das Cabaret "Wilde Bühne" gründete (hier mit "Lieber kleiner Eintänzer"). Die CD zaubert die Stimmung der Weimarer Republik hervor, in der der Jazz Berlin erobern konnte. Schon für sich allein muß man sie rundherum gelungen nennen, aber grandios ist sie, wenn man dabei das Buch liest, sie durch diese kleinen Ohrstöpseln mit einem im Jackett verborgenen tragbaren CD-Abspielgerät hört und in der U-Bahn unter der Stadt hindurchbraust, die sich irgendwie plötzlich wieder so anfühlen mag wie damals, bevor die Nazis kamen.
Tracks
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Last update (this page): 21 Jul 2004.
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