Über die frühen Filme Fritz Langs ist kaum etwas bekannt. Standardwerke
wie Eisners Fritz Lang (1976), Grafe/ Patalas' "Reihe Film"-Band
über Lang (1976, 1987) oder Otts The Films of Fritz Lang (1979)
widmen ihnen allenfalls ein paar Seiten, und beginnen die ernsthafte Diskussion
seiner Filme mit DER MÜDE TOD (1921), dem ersten Werk seiner "Meister"-Phase.
Vernachlässigt wurden die Filme, die Lang als Drehbuchautor für andere
Regisseure schrieb und seine ersten sieben Filme als Regisseur. Für diese
Vernachlässigung gibt es zwei Gründe: 1. die Filme vor DER MÜDE TOD galten als wenig bedeutende Frühwerke (vielleicht mit Ausnahme
der SPINNEN (1919/20)), als Vorgeschichte vor der Meisterwerk-Phase --
auch Lang hat dieser Ansicht zugestimmt; im Interview mit Peter Bogdanovich
(1967) sagte er über HALBBLUT (1919): "Ich brauchte dafür
fünf Tage, glauben Sie, er könnte gut sein?"; 2. ein Großteil
des Frühwerks war einfach unbekannt, schwer zugänglich oder verschollen;
die oben erwähnten Bücher konnten nicht mehr über die
Filme vor DER MÜDE TOD enthalten, weil die Autoren die meisten dieser
Filme nicht kannten -- so waren, als ihre Bücher erschienen, HARAKIRI
(1919) noch nicht restauriert und DAS WANDERNDE BILD (1920) und KÄMPFENDE HERZEN (1921) noch nicht wiederentdeckt.
Georges Sturm beginnt, diese Lücke zu schließen, mit einem Buch,
das in Anlehnung an Figuren aus Langs frühen Filmen den wunderschönen
Titel trägt: Die Circe, der Pfau und das Halbblut. Sturm geht aus
von seiner akribischen empirischen Forschungsarbeit: er gräbt bisher nicht
bekannte oder nicht berücksichtigte Fakten aus, präsentiert sie in
einem Feuerwerk an Information, und gelangt zu einer kundigen Analyse, in der
er diese Fakten in einen sinnfälligen Zusammenhang stellt und damit einen
neuen Blick auf Langs Frühwerk öffnet, das von nun an genau so eine
Rolle im filmhistorischen Diskurs spielen dürfte wie die späteren
"Meisterwerke".
Sturms Grundlage sind vor allem die vier bedeutendsten zeitgenössischen
Film-Fachzeitschriften Lichtbild-Bühne, Film-Kurier, Der
Film und Der Kinematograph. Diese Quellen ist er sorgfältig
durchgegangen und dabei in Filmkritiken, Anzeigen, redaktionellen Beiträgen
und Produktionsmeldungen auf allerlei verwertbare Information gestoßen.
Er fügt den Lang-Filmografien sogar einen Titel hinzu: HAZARD (1921)
entstand, wenn wir einigen kleinen Produktionsmeldungen folgen wollen, nach
einem Drehbuch von Fritz Lang! Sturm verwirft jedoch die Idee, Lang sei auch
noch identisch mit dem Regisseur Frederik Larsen (S. 69-71). Einige kluge Gedanken
könnten in der Lage sein, Aufschluß zu geben über ein paar mysteriöse
Filme, die in Produktionsmeldungen zwar erwähnt aber anscheinend nie produziert
wurden: war Der König der Bohème vielleicht der Arbeitstitel
für BETTLER G.M.B.H. (S. 16) und Die Frau mit den Orchideen
der für TOTENTANZ (S. 88)? Ganz nebenbei erfahren wir etwas über
so wichtige Personen wie z.B. Alwin Neuß, Otto Rippert, Josef Coenen,
Wolfgang Geiger, Carola Toelle, Hella Moja oder Carl Hoffmann (nicht jedoch
über z.B. Julius Sternheim oder Hermann Warm, was man sich auf den S. 26/27
gewünscht hätte). Und dann gibt es noch die kleinen Entdeckungen,
die ganz offensichtlich waren, die aber keiner außer Sturm gesehen hat:
so sind z.B. die Romanfassungen der SPINNEN als Fortsetzungsgeschichte
im Film-Kurier vollständiger als die der später erschienenen
Buchfassungen. Cornelius Schnauber, der die Romane 1987 neu herausgebracht hat,
hatte sich damit zufrieden gegeben, die gekürzten Buchfassungen zu übernehmen
(S. 131-137).
Die Circe, der Pfau und das Halbblut besteht aus fünf größeren
Teilen:
Sturm ist stärker in den Analysen in 3 und 5, in denen er seine vorher
erarbeiteten empirischen Grundlagen zur Basis tief gehender kulturgeschichtlicher
Betrachtungen macht. Er zeigt, daß der Blick auf Langs frühe Filme
nicht aus Richtung der späteren "Meisterwerke" erfolgen darf:
"Die Filme dieser ersten Periode können nicht in retrospektiver Lesart
als embryonale Formen oder erste Buchstabierversuche für spätere Filme
betrachtet werden." (S. 17) Sondern sie müssen als Ergebnis der davor
liegenden kulturellen und geschichtlichen Ereignisse und Diskurse des späten
19. und frühen 20. Jahrhunderts gesehen werden. Lang verarbeitet darin
zeitgenössische Themen der Kaiserzeit und Weimarer Republik, und Sturm
zeigt, daß Langs frühe Filme dessen Auseinandersetzung mit den Motiven
Exotik, Rasse, Sex, Frau und Tod sind. Aus der Circe-Kritik von Frank
Arnold (Süddeutsche Zeitung, s.u.): "Was in anderen Händen eine
reine Materialsammlung hätte werden können, fügt sich hier zur
schlüssigen Analyse".
Das ganze Buch ist sowohl eine schlüssige Analyse als auch
eine Materialsammlung, die auch für Erforscher anderer Themen oder Verfechter
anderer Argumente Ausgangspunkt und Arbeitsgrundlage sein kann. Ein Teil der
Arbeit ist damit schon getan, und es wird unsere Aufgabe sein (und die künftiger
Forscher), mehr beizutragen zum Bild des frühen Lang. Hier ein paar Ansatzpunkte
zunächst einmal möglicher weiterer Detektivarbeit: Eine zentrale unbeantwortete
Frage der Erforschung des frühen deutschen Films ist, wie wir Meldungen
in Film-Fachzeitschriften zu lesen haben, z.B. über Beginn und Ende von
Dreharbeiten. Sind diese Meldungen journalistische Recherche und einigermaßen
akurat, oder bloße Wiedergabe von Pressemeldungen der Filmgesellschaften
und zeitlich nicht am Termin der wirklichen Dreharbeiten orientiert, sondern
am Termin der Pressekampagne zum jeweiligen Film? Sind sie eher voreilig oder
eher verspätet? Wie verspätet? Sturm diskutiert diese Fragen
nicht und macht damit nicht deutlich, ob Dreharbeiten tatsächlich zu den
angegebenen Zeiten stattgefunden haben oder nicht. So gibt er als Drehzeit für
den Film DIE EHE DER FRAU MARY (1919) 30.08.-11.10.1919 an (gleich zweimal,
auf den S. 27 und 56), ohne zu sagen, daß diese Daten lediglich die Abdruckdaten
von Meldungen in Film-Fachzeitschriften markieren, die den Anlauf bzw. das Ende
der Dreharbeiten verkünden. Zu den CALIGARI-Dreharbeiten schreibt
Sturm (ohne Quellenangabe), sie hätten am 9. Januar 1920 begonnen, "parallel
zu denen von DAS BRILLANTENSCHIFF" (S. 58). Das steht nicht nur
im Widerspruch zu seiner eigenen Äußerung zwei Seiten zuvor, die
Dreharbeiten zu DAS BRILLANTENSCHIFF hätten von Oktober bis November
1919 stattgefunden (S. 56), sondern auch im Widerspruch zur CALIGARI-Quellenlage
(ein Drehbericht erschien bereits am 6. Januar 1920 im Film-Kurier).
Auch die Datierung, Pommer hätte für die Decla erst nach der Vertragsunterzeichnung
mit dem Hagenbeck-Tierpark in Hamburg-Stellingen Mai 1919 das Drehbuch Butterfly
von Max Jungk gekauft, um diesen exotischen Stoff in Hamburg zu drehen (S. 49),
läßt sich nicht halten: bereits am 14.09.1918 erschien eine Anzeige
der Decla in Der Film, die verkündete, die Dreharbeiten zu Madame
Butterfly seien "in vollem Gange", begleitet von einem Text im redaktionellen
Teil. Der Stoff wurde also schon sehr viel früher erworben. Dies alles
sind Ansatzpunkte, wo man weitermachen könnte mit der Forschung. Die Filmgeschichte
ist ein Puzzlespiel. Und es erfreut zu sehen, daß ein Teil des Puzzles
schon zusammengesetzt ist.
filmhistoriker.de,
edited by olaf brill.
Last update (this page): 21 Jul 2004.
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