FILM REVIEW

Die Mumie, der Punk, der Hund und die Frau

Franka Potente hat einen Stummfilm gedreht
Weltpremiere auf der Berlinale 2006




Cecilie (Emilia Sparagna). Foto: X Verleih, Berlin. Der Film spielt im Jahr 1918: Der Krieg ist zuende, der Kaiser ins Exil geflohen. Er spielt aber auch in einer magischen Märchenwelt: in der Flüche wirken und Wünsche in Erfüllung gehen. Und er spielt in der Welt des Films: Nicht zur Entstehungszeit passend, sondern zur Handlungszeit, präsentiert Potente ihr Regiedebüt schwarzweiß und stumm, mit Zwischentiteln, Irisblenden und blassgeschminkten Schauspielern, die stets in Richtung Kamera agieren. Franka Potente hat einen Stummfilm gedreht, im Mai 2005! Einen "langen Kurzfilm", eine unterhaltsame Fingerübung, ein Spiel mit dem Medium und einen Spaß für Künstler und Publikum. "Stummfilme interessieren mich schon sehr lange", sagt die Regisseurin. "Vor Jahren hatte ich die verrückte Idee, dass ich gerne mal Brad Pitt in einem Stummfilm sehen würde -- einen modernen bekannten Schauspieler, in einer ganz anderen Rolle und ohne Sprache. Es ging mir nicht darum, etwas tolles Altes zu kopieren, ich wollte eine Verbindung zur Moderne herstellen." So ist es denn auch ein Anachronismus, der das ganze Spiel in Schwung bringt. Der Hund gräbt ihn im Garten aus, und dabei handelt es sich nicht um die Tollkirsche.

In DER DIE TOLLKIRSCHE AUSGRÄBT treffen Welten aufeinander. Da ist zunächst der Vater der kaisertreuen doch verarmten Familie, der schnell noch die Tochter verheiraten will, bevor das folgende Jahrzehnt die wilden Freiheiten und Exzesse der Weimarer Republik bringt, zu denen sich die Poklatschmaschine in seinem Keller verhält wie Richard Tauber zu den Sex Pistols. "Wir haben jetzt die Demokratie", seufzt er zwischen Bedauern und Entsetzen. Doch zu spät: Der Hund hat auf dem Rasen einen seltsamen Faden gefunden. Er gehört zu einer Mumie, die im Garten vergraben ist. Und aufgewickelt stellt sie sich als Punk aus der Zukunft heraus, ein ferner Nachkomme der Demokratie, der tut was er will, und der nicht in Zwischentiteln spricht, sondern redet! Der Vater, der Vergangenheit verhaftet, hält ihn vorsichtshalber erst mal für den neuen Kaiser. Seine Tochter Cecilie, in die Zukunft gerichtet, ist ihm aus anderen Gründen gar nicht abgeneigt. Das neue Jahrzehnt wird Frauenwahlrecht und Bubikopf bringen, und Frauen, die in den Zauberwald gehen und selber bestimmen, was sie tun und wen sie heiraten.

Franka Potente und Max Urlacher. Foto: X Verleih, Berlin. Einen Stummfilm im 21. Jahrhundert zu drehen erfordert einiges an Vorbereitung und viele Entscheidungen: An welchen Vorbildern orientieren? Wie wird geschminkt, beleuchet, geschnitten? Auf welchem Filmmaterial wird gedreht? Potente sichtete zunächst zusammen mit Kameramann Frank Griebe (LOLA RENNT) viele Filme, von Georges Méliès und Charlie Chaplin bis F.W. Murnau und Fritz Lang. "Es war toll, diese alten Filme, die ich etwa zwanzig Jahre nicht mehr gesehen habe, jetzt mit ganz anderen Augen anzuschauen, um bestimmte Techniken zu lernen", sagt Griebe. Regisseurin und Kameramann entschieden sich schließlich dafür, auf Super-8-Farbmaterial zu drehen, das für die Lichtbestimmung in schwarzweiß konvertiert und für die Aufführung auf 35 mm aufgeblasen wurde. "Die Beleuchtungstechnik ist ganz anders", sagt Griebe. "Wir haben Tests mit den Farben der Kostüme und der Ausstattung gemacht, damit hinterher im Bild unterschiedliche Graustufen und gute Kontraste zu sehen sind. Wenn der Schauspieler einen grünen Anzug trägt, muss die Wand vielleicht blau sein, damit das hinterher nicht einfach eine graue Suppe wird."

Für die Darsteller war das Agieren im Stummfilmstil eine neue Herausforderung. Potente griff auf Kollegen zurück, mit denen sie schon als Schauspielerin zusammengearbeitet hatte. Wie Max Urlacher, mit dem sie in NACH FÜNF IM URWALD und DER KRIEGER UND DIE KAISERIN vor der Kamera gestanden und in ihrem einsamen Jahr in Hollywood einen Briefwechsel geführt hatte, der vor kurzem als Buch erschienen ist ( "Los Angeles -- Berlin. Ein Jahr"). In der TOLLKIRSCHE spielt Urlacher nun Alfred, den ekligen Typ, den Cecilie heiraten soll. "Franka... lässt das Absurdeste ganz realisierbar und natürlich erscheinen", sagt Urlacher. "Und dann haben wir schon zwei Monate vor dem Dreh Probeaufnahmen mit dem Kameramann Frank Griebe gemacht, bei denen es um die technische Umsetzung ging, aber auch darum wie wir spielen. Da konnten wir viel ausprobieren und haben unsere anfängliche Scheu schnell verloren... Wir haben gespürt, dass wir uns da nicht lächerlich machen, und als Schauspieler weiß man ja auch, dass man mit Blicken sehr viel mehr ausdrücken kann, als mit einer gesprochenen Zeile." Für die Hauptrolle der Cecilie wählte Potente ihre Freundin aus Los Angeles, die Fotografin Emilia Sparagna, die zwar noch niemals als Schauspielerin gearbeitet, aber laut Potente einfach ein "Stummfilmgesicht" hatte. Und Cecilie schließlich ist es, die im Film auch die Tollkirsche ausgräbt, nicht der Hund. Zur Weltpremiere in Berlin kamen übrigens beide auf die Bühne.

Kinostart ist vorgesehen für Juli 2006.
Fotos: X Verleih, Berlin.

OLAF BRILL
20 Feb 2006

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filmhistoriker.de, edited by olaf brill.

Last update (this page): 20 Feb 2006.

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