FILM GENUINE (GER 1920)

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LITERATURE
    Genuine -- Die Tragödie eines seltsamen Hauses (1920)

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GENUINE -- DIE TRAGÖDIE EINES SELTSAMEN HAUSES
GENUINE: A TALE OF A VAMPIRE
GENUINE

Directed by: Robert Wiene.
Written by: Carl Mayer.
Production company: Decla-Bioscop A.-G., Berlin.
Executive Producer: Rudolf Meinert.
Photography: Willy Hameister.
Set design: César Klein,
Bernhard Klein,
Kurt Hermann Rosenberg.
Costume design: César Klein.
Cast: Fern Andra (Genuine),
Ernst Gronau (Lord Melos, the eccentric),*
Harald Paulsen (Percy, his grandson),
Albert Bennefeld (Curzon, Percy's friend),*
John Gottowt (Guyard, the barber),
Hans Heinz von Twardowsky (Florian, Guyard's nephew and apprentice),
Lewis Brody (the Malay).
Studio / Locations: Bioscop-Atelier, Neubabelsberg.
Première: 02 Sep 1920, Marmorhaus, Berlin.
Censorship data: Berlin 28 Aug 1920 (no .368), 6 acts, 2286 m, Decla-Bioscop A.-G., Berlin, prohibited for children.
Restoration data: 1996: restored colour version by the film archives of Munich (Germany), Toulouse (France) and Bologna (Italy). Première November 1996.

* Jung and Schatzberg watched an American print from the Rohauer Collection in which Melos is called Milo and Curzon is called Henry.



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ABSTRACT



In 1920, THE CABINET OF DR. CALIGARI proved, that a film can be done successfully in expressionist style. In the same year, the Decla Film Company (meanwhile Decla-Bioscop A.-G.) tried another experiment in the same style: GENUINE, the second expressionist film (less successful). Decla's Executive Producer Rudolf Meinert hired some of CALIGARI's personnel: writer Carl Mayer, director Robert Wiene, photographer Willy Hameister and actor Hans Heinz von Twardowsky. Like CALIGARI, GENUINE was advertised with a publicity campaign in the film trade press, and even contained a frame story (in which the inner story is a painter's dream). The sets were painted by César Klein and his team. Hermann Warm (of CALIGARI) said: "Wiene asked me to do the set decorations for GENUINE; I refused because in my opinion the story, in spite of Carl Mayer, didn't demand an expressionist forming." The film stars Fern Andra as the blood-drinking slave girl Genuine and Hans Heinz von Twardowsky as the barber's nephew and apprentice who falls in love with the vampire. Until recently, the film was considered as practically not preserved, but in 1996, the film museums of Munich, Toulouse and Bologna presented a restored version.




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PLOT



Nein! Nein, nein! Dieser Barbier Guyard war kein Verbrecher. Zwar verdächtigte ihn alles Volk der kleinen irischen Stadt. Man haßte ihn, den Einsamen, den Wortkargen, der seinen Laden für immer geschlossen hatte, um als einziger des Städtchens täglich in jenes von einem hohen Wall beherrschte, geheimnisvolle Haus zu gehen. Er hatte noch zu keinem Fragenden, zu keinem Neugierigen, zu niemand jemals ein Wort über Vorgänge im Innern dieser seltsamen Villa gesprochen.

Später, als Volkeswut eine Tragödie entschleierte, deren Untiefen nur unfaßbarer noch erschienen, hatte es sich auch erwiesen, daß Guyard selbst in Wahrheit keinerlei Begebenheiten bekannt waren, die ihn, den Verschlossenen, hätten zwingen sollen, gerade auch dieses Haus zu meiden, über dessen sonderlichen Besitzer er sich niemals Gedanken machen wollte. Denn nicht jener kleine, zaundünne, absurde älterliche Herr war es, über den er sich jemals andere Gedanken gemacht hätte, als solche, die ihn weiter führten als sein Amt. Ihm galt es nur, die Wangen dieses Sonderlings auf das ausgeklügeltste und peinlichste zu barbieren, die einzige Sorge, der einzige Gedanke und die einzige Laune eines ihm Wesensverwandten.

Hätte also Guyard, der Volkesstimme trotzend, die verächtlich mit Fingern nach ihm wies, mehr von den Ereignissen in diesem Haus gewußt, so würde er nie und nimmermehr seinen Lehrling Florian eines Tages mit seiner Vertretung dorthin betraut haben. Eines Tages, welcher der Tag für die Geschichte dieses Hauses wurde, der Tag für das einsam dahinschneckende Leben Guyards und nicht zuletzt für die dunkel bösen Ahnungen aller Leute aus der kleinen Stadt. Wahrlich, es konnte aber auch nicht verwundern, wenn alle Einwohner unter der Panik so gearteter Mutmaßungen gebeugt standen, denn außer Guyard hatte noch niemals jemand diesen sonderlichen Sonderling von Angesicht gesehen. Man wußte nur, daß er Lord Melo heiße und daß in seinen Diensten ein hünenhafter schwarzer Diener stand, der nur jeden Monatsersten durch die Hauptstraße des Städtchens schritt, um Einkäufe zu besorgen, wobei er den grollenden Haß der Krämer durch schweres Gold in dienernde Unterwürfigkeit zu besiegen verstand.

Jener Tag also, an dem Guyard seinen Lehrling Florian, den schwächlichen, blauäugigen, zarten, verträumten Knaben, dessen ewige Sehnsucht das Märchenland nur war, auf Verlangen des Sonderlings in dessen Haus sandte, wurde der Tag des Schicksals. Dieser Tag dämmerte schon zum Abend, Florian aber war nicht zurückgekehrt. Und Nacht ward es und wieder Morgen. Florian fehlte! Da schritt Guyard nach dem Hause, zürnender Stirn -- doch verschlossen fand er das Tor. Vergeblich begehrte er Einlaß, er bat, er schrie, er tobte Wut -- ohne um Florian zu wissen. Er war sichtlich seiner Stellung verlustig, mit dem Hause verfeindet und durch das Haus mit der Stadt, und er mußte wieder gehen. Zähneknirschend! Tage nun zogen vorbei, und wieder war eine Nacht. Guyard aber, der finster Grübelnde, wachte in schwerem Groll, als er plötzlich aufhorchte. Pochte jemand an die Ladentür? Unter dunklen Ahnungen öffnete er zögernd und seine Laterne leuchtete auf -- Florian! Zornentbrannt erst erhob er seine Faust gegen den Knaben, der von wildem Fieber geschüttelt erschien. Doch als er dessen Zustand erkannt hatte, da stützte er ihn in die Kammer. Dort bettete er ihn sorglich und er drang in den Lallenden, damit er ihm mitteile, was ihm denn geschehen sei. Dieser aber fieberte vor sich her und sprach unverständliche Sätze, daß er sich nicht töten könnte, daß er gerne noch leben möchte, denn so unendlich wunderschön sei -- Genuine. Genuine?!

[p. 5:] Guyard hatte diesen Namen nie gehört und so befragte er den Kranken, wer Genuine sei. Doch der also Fiebernde schrie unter dieser Anrede nur erschütternder noch empor, daß er ein Mörder sei, und er schluchzte laut nach Hilfe. Da bekreuzigte sich der Barbier. Er stülpte den Hut auf, verschloß die Türe und rannte durch nächtliche stille Gassen hin zum Magistrat.

Guyard, dem eine amtliche Untersuchung des Hauses nicht schnell genug vor sich gehen konnte, eilte zurück nach seinem Laden, wo er den Lehrling wiederum entflohen sah. Zornsiedend und ohne die Schritte der Behörde abzuwarten, hetzte er das Volk zusammen, und der Strom der Menge brandete wild vor dem verschlossenen Tor, das trotz gewaltigster Widerwehr des schwarzen Dieners von dem johlenden Pöbel, der im Innern eine Hexe vermutet, zerspalten wurde. Und schon wälzte der Haufe, Guyard allen voran, hinein in das Haus, als alle so Eingedrungenen plötzlich gräßliche Schreie vernahmen, die weithallend den Namen "Genuine" durch das Haus schmetterten. Und man sah einen Verzweifelten an einer verschlossenen Türe hämmern, die rasch geöffnet wurde, worauf ein kreidebleicher junger Mensch, hinweg über alle, die Treppen auch schon emporraste. Alles Volk raste hinter dem Schreienden her, der über die Stufen fast flog, wobei er immer nur jene seltsamen Silben "Genuine" langgedehnt hervorstieß. Schon befand man sich im Dachstuhl des Hauses, dessen eigenartige Einrichtung blitzschnell an den Eindringenden vorübergezogen war, da rannte der fremde Jüngling, den noch niemals jemand in der Stadt gesehen hatte, in eine kleine Kammer, deren Tür geöffnet stand. Alle drängten ihm nach und -- erstarrten! Denn in der Mitte des Raumes stand stumm und bewegungslos der Lehrling Florian, einen Dolch in Händen noch, während am Boden ein wohl eben verstorbenes, allen fremdes, in seiner Schönheit noch nie geschautes Mädchen hingestreckt war, über das sich der junge Fremdling unter zerreißendem Schluchzen geworfen hatte. Guyard aber schüttelte drohend den noch immer leblosen Florian, der in der Abwesenheit nur vor sich hinmurmelte: Mein -- Märchen -- ist -- tot --! Ehe aber die Anwesenden über das sich ihnen bietende Bild zu reifen vermochten, schallten wieder schwere Schritte durch das Haus und kurz darauf stand die Polizei auch schon in der Kammer. In deren Begleitung befand sich jemand, der die Örtlichkeiten des Hauses sichtlich kannte und von den Beamten mir Lord Curzon angesprochen wurde. Er suchte, hinweg über die allgemeine Verwirrung, den verzweifelten jungen Menschen, der wohl sein Freund war und nach der Anrede zu urteilen, Percy hieß, zu trösten. Sein Beginnen aber schien in Anbetracht des gewaltigen Schmerzes dieses Jünglings vergeblich.

Wäre dieser Curzon nicht gewesen, die Umstehenden hätten wohl niemals erfahren, daß der sonderliche Besitzer dieses noch sonderlicheren Hauses, Lord Melo, vor Tagen schon durch Florian ums Leben gekommen war. Und welche seltsamen schaurigschönen und so tragischen Erlebnisse einen verträumten jungen Menschen zum Doppelmörder und einen anderen zum erschütternd um die Geliebte Weinenden hatten werden lassen.

So senkte sich also, als man Florian abführte und Curzon mit Gewalt nun Percy emporstützte, ein Vorhang über eine Tragödie, die offenbar Genuine hieß. Von diesem Wesen berichtete Percy, daß sie, eine Laune des irrsinnigen Sonderlings, von diesem auf einem persischen Sklavenmarkt aus den Händen einer wahnsinnigen Geheimsekte käuflich erworben war, daß sie ein unsagbar schönes, liebliches, kindlich weich verspieltes und, ach, so unheilvolles Mädchen war, wie Traurige nur von solchen zu erzählen wissen.

Illustrierter Film-Kurier (Berlin) vol. 2, 1920, no. 25, pp. 4-5.


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REVIEWS



L. K. Fredrik
"Genuine", Marmorhaus


Es gibt gute Filme, und es gibt schlechte Filme. Es gibt solche, die es ernst meinen und lächerlich wirken, und es gibt komisch sein sollende, die eine allzu tragische Miene tragen. Es gibt aber auch Filme, über die man zur Tagesordnung übergeht, und solche, über die man nicht nur lebhaft diskutiert, sondern sogar nachdenkt (was man nicht einmal nach jedem Theaterstück und auch nicht nach jedem Buch immer tut).

Ein solcher Film ist die neue Decla-Leistung "Genuine", die gestern im "Marmorhaus" vor die Öffentlichkeit hintrat.

Wir haben eben erst "Sumurun" gesehen. Ein Vergleich läge nahe. Dort Märchenland -- hier Phantastik. Dort orientalischer Zauber -- hier ein abendländischer Zauberer, oder wenigstens so etwas Ähnliches. Doch Vergleiche hinken bekanntlich immer. Lassen wir's also.

Ich sagte gestern: Film muß wirklich sein. Wahr braucht er nicht zu sein. "Genuine" ist wirklich, aber sie ist nicht wahr. Es gibt auch eine phantastische Wirklichkeit, -- auch die Träume sind echt, doch wirklich, solange wir sie erleben. (In dem Wort "erleben" steckt schon der Beweis für den Wirklichkeitsgehalt.) Aber wahr? -- Träume sind Schäume, sagt ein banales Volkssprichwort. (Es gibt allerdings auch Käuze, die diese "Schäume" für wahr halten. Doch das nebenbei.) Die "Genuine" ist jedenfalls ein Schulbeispiel dafür, wie die phantastische Wirklichkeit gestaltet werden kann.

Genuine ist kein Fabelwesen, wie die Alraune, die der Retorte des Forschers entstieg, oder wie Homunculus. Sie ist ein natürliches, unnatürlich gewordenes Lebewesen, das am Ende wieder zur Natur zurückkehrt. Einleitend wird ihr Roman erzählt. "Genuine" mußte schon als Kind Blut trinken. Eine geheimnisvolle Sekte zwang sie dazu." Uns wird das später gezeigt, wie. Auf einem von Schleiern wundervoll mattierten Bilde sehen wir Genuine (allerdings schon reichlich ausgewachsen) in den Händen der Sekte. Man reicht ihr den Blutkelch, sie muß trinken. Da stürzen Sklavenhändler herein. Genuine wird geraubt, um auf dem Sklavenmarkt verkauft zu werden. Dort findet und erwirbt sie der Sonderling. Er entführt sie in ein geheimnisvolles Haus, das in irgendeiner kleinen irischen, von Ackerbürgern bewohnten Stadt steht, baut ihr eine unterirdische Grotte mit Bäumen und Gewächsen aus den heißen Gegenden, denen sie entstammt, gibt ihr die reizvollsten Gewandungen und läßt sie das Blut von Vögeln trinken. Tropenglut und Blutgenuß lassen in ihr den Blutrausch nicht vergehen, halten ihn wach. In der Stadt lebt ein harmloser Barbier, der dem Sonderling täglich die Wangen säubert. Sonst weiß er von dem geheimnisvollen Hause, das von einem riesigen Neger bewacht wird, nichts. Er hat einen Neffen Florian, der sein Lehrling ist. Florian muß den Barbier einmal vertreten. Genuine erscheint. Ihr Blutwille zwingt Florian, dem alten Sonderling die Kehle abzuschneiden. Florian und Genuine im Liebesrausch, nachdem ein geheimnisvoller Ring die Rachegelüste des Negers gebändigt hat. Genuine kann aber ohne Blut nicht leben. Sie fordert Florians Tod. Sie hat ihm den Ring der Macht geraubt. Der Neger gehorcht. Trägt aber ein weißes Herz in seinem schwarzen Busen, stößt Florian in die Freiheit, die er nicht will, öffnet sich selbst eine Ader und reicht sein Blut Genuine (ohne das die Wunde weiter blutet!). Ihr Rausch aber ist verflogen: sie schleudert entstetzt den Becher von sich. Ein erstes Erwachen.

Da erscheint der Enkel des Sonderlings. Genuine und dieser Enkel im Liebesrausch. Hin und wieder blutdürftige Anwandlungen. Bis die Liebe sie einigt. Aber nun ist es zu spät. Florian ist zu seinem Onkel zurückgekehrt. Im Fieber nennt er sich "Mörder", der er ja auch ist. Der Onkel erregt die Stadt, die trotz Wohltaten, schon von Mißtrauen gegen das geheimnisvolle Haus erfüllt ist. Man dringt gewaltsam ein. Der Neger fällt unter Sensenstreichen. Aber Florian, der zuvor bei Genuine eingedrungen ist und zugunsten des neuen Liebhabers abgewiesen wurde, hat bereits das Henkerwerk, das die Volksmenge beabsichtigte, vollzogen: Genuine ist von seiner Hand erdolcht worden. An ihrer Leiche bricht er zusammen.

Das ist die Handlung die Carl Mayer, der Schöpfer des "Caligari", erfunden hat. Sie ist bunt, aber nicht konsequent durchgeführt. Sie ist Anlaß, aber nicht Vollendung. Die psychologische Konsequenz fehlt. Und die Logik? -- sie wird auf den Kopf gestellt. Doch was schadet's! Wir sind ja im Zauberland des Phantastischen. (Daß es hätte anders gestaltet werden können, ist eine Ansicht, für die Beweise zu erbringen sind.)

Eine glänzende photographische Leistung zeigte uns herrliche und überraschende Bilder. Das Publikum purzelt förmlich von einer Überraschung in die andere, -- wie Fern Andra - Genuine aus einem entzückenden und reizenden Kostüm in das andere schlüpft. Sie hat ausgiebig Gelegenheit, ihre Reize zu zeigen, und macht reichlichen Gebrauch davon. Sie spielt die Genuine vermenschlicht, vielleicht zu vermenschlicht, vielleicht nicht tierisch genug. Das Tierhafte und das Treibende im Blutrausch kommt nicht zu so scharfem Ausdruck, wie es vielleicht gewollt war. Sie erreicht natürlich ihren Zweck: sie sieht immer schön aus. Ob das für die Tragik ausreicht? Außerdem soll es auch Leute geben, die usw. Über den Geschmack läßt sich eben doch streiten!

Der Sonderling von Ernst Gronau ist gut, charakteristisches Altmännlein. Der Florian des Hans Heinz von Twardowsky eine ausgezeichnete Leistung. Überschlanke, schwächliche, sinnlich erregende Jünglingshaftigkeit, die eben erst zum Leben und Liebe erwacht, mit großen verwirrten, beirrten Träumeraugen, mit weiten, schwingenden Gesten, mit lebhaftestem Mienenspiel, das Liebe und Lust, Entsetzen und Entzücken, Sehnsucht und Tollheit glänzend widerspiegelt. Der Friseur des Herrn John Gottkowt auch sehr gut; ganz der einfache, aber von seiner seltsamen Sondermission beglückte Mann aus dem Volke. Kein Zuviel und kein Zuwenig, hier gutes Maßhalten. Harald Paulsen, Albert Bennefeld und der Neger Lewis Brody vervollständigen das gute Ensemble.

In der Regie von Robert Wiene stolpert man über allerhand; aber das liegt wohl mehr am Stofflichen. Die Dekorationen und Kostüme machen dem Malerauge César Kleins alle Ehre. Die Photographie von Willy Hameister ist einfach erstklassig. Sie wird viel zu der Verbreitung des Films beitragen.

Carl Mayer hat den Weg, den er mit "Caligari" betrat, weiter beschritten. Daß er die Idee nicht mit Konsequenz gemeistert hat, ist nicht ganz allein seine Sache. Es ist, als sei das Marmorhaus für solche phantastischen Angelegenheiten erbaut worden. Stileinheit zwischen Räumlichkeiten und Gebotenem war gewahrt. Die Titel in bizarr verzerrter und verwischter Schrift zu geben, ist zwar stilecht, ob aber auch praktisch? -- es gehen auch Menschen mit schwachen Augen ins Kino.

Jedenfalls ist "Genuine" eine filmische Überraschung, mit der gerechnet werden muß.

Über Genuine wird eifrig debattiert werden.

Film-Kurier (Berlin) vol. 2, no. 196, 03 Sep 1920, p. 1.

E. K.
Genuine


Weit abseits vom breiten ausgetretenen Kinopfade versucht die Decla-Bioscop eigene Wege zu gehen. Ihr neues Filmwerk "Genuine", das gestern im Marmorhaus seine Uraufführung erlebte, zeugt von ernstem Streben nach künstlerischer Vollendung ohne Rücksicht auf den leider so oft verkitschten Publikumsgeschmack. Das ist eine Tat, die laute Anerkennung verdient, auch wenn noch nicht alles restlos gelungen. Und wenn am Schluß der Vorstellung starker Beifall und lebhafter Widerspruch aufeinanderprallten, so ist dies nur ein Beweis dafür, daß die Wucht dieser Schöpfung das Publikum im Innersten aufgerüttelt hat. Dieses Erwecken aus dumpfer Gefühllosigkeit ist in erster Linie den Szenenbildern zuzuschreiben, die Professor César Klein schuf. Auch da, wo seine eindringliche Kunst noch nicht innerlichstem Verstehen begegnete, hinterließ sie stärkste Eindrücke. Wenn trotzdem an einzelnen Stellen das Publikum widersprach, so galt dies der Darstellung, die, wenn sie auch vom Regisseur Dr. Wiene verständnisvoll dem Rahmen des Ganzen angepaßt war, nicht ausreichte. Für derartige Filme, wo die kleinste seelische Regung auf das feinste herausziseliert werden muß, sind die besten Kräfte gerade gut genug. Der Erfüllung dieser Aufgabe nahe kamen Hans Heinrich von Twardowski, Ernst Gronau und John Gottowt. Die Darstellerin der Genuine, Fern Andra, war zu sehr auf äußere Wirkung eingestellt. Das Manuskript schrieb Carl Mayer mit seinem Herzblut. Diese restlose wohlverdiente Anerkennung wird erst dann voll verständlich, wenn man das Manuskript gelesen hat. Ich habe diese Pflicht erfüllt und dabei gefunden, daß Carl Mayer -- wie dies schon neulich an dieser Stelle gesagt wurde -- ein wahrer Künstler ist. Leider ist aber im Film nicht alles ausgedrückt, was der Dichter gestaltete. Aber trotzdem ist eine Tat, daß Rudolf Meinert diesem Werk den Weg ebnete, eine Tat, die vielleicht erst einmal in späteren Tagen gebührend gewürdigt werden wird.

8 Uhr-Abendblatt 03 Sep 1920. Quoted from: Film und Presse (Berlin) vol. 1, no. 9, 11 Sep 1920, p. 221.

A. F.
Genuine


Gestern "Sumurun", heute Fern Andra in "Genuine" -- man kann sich kaum einen größeren Gegensatz denken. Und der Umstand, daß man es beide Male mit Kunstwerken zu tun hat, zeigt so recht, wie weit die ästhetischen Grenzen des Filmes heute bereits gesteckt sind. Ich weiß nicht, wie weit Direktor Oliver das Fabrikationsprogramm der Decla-Bioscop mitbestimmt. Ich erinnere mich aber noch, daß er vor nicht langer Zeit einmal als wünschenswertes Ziel aussprach, die intellektuelle und soziale Oberschicht, sozusagen W und WW, für den Kinobesuch zu gewinnen. Wenn der große, geschickt geleitete Konzern diesem Ziele zustrebte, könnte er es nicht mit geeigneteren Mitteln tun, als durch seine bisherigen künstlerischen Großfilme. Sie schaffen geradezu eine neue Gattung. Mit dem Wort "Expressionismus" ist sie nicht abgetan, wie man wohl beim Erscheinen des "Kabinetts des Dr. Caligari" meinte. Mann könnte sie eher als "literarischen" Film bezeichnen, wenn diese gute Bezeichnung nicht so entsetzlich abgenutzt und mißbraucht worden wäre. Sie schaffen im Film etwa das, was die Werke Oscar Wildes, Stendhals oder Hans Heinz Ewers' für das Schrifttum sind: Schöpfungen feinster nervöser Spannungen, die aber durch ihren heißen Atem in gleicher Weise den literarischen Feinschmecker wie den einfachen Leser oder Zuschauer fortreißen.

Gab es für Fern Andra überhaupt noch einen anderen Rahmen? Können diese seltsam perversen Reize anders als in dieser Schlangenhaut, diesen exotischen Federkleidern wirken? Karl Mayer, der Verfasser des Dr. Caligari, schrieb auch diese Tragödie eines seltsamen Hauses. Hier wie dort umfängt uns Blutgeruch und jenes Grenzgebiet zwischen Begierde und Irrsinn, das eine bestimmte Richtung der modernen Literatur kennzeichnet. Diese Genuine, die Priesterin eines geheimnisvollen Menschenopferkultus, die nach dem Blut der Männer dürstet und erst an der Liebe von ihrem Rausche genest, zu spät, weil zur gleichen Zeit sie der Tod umarmt, führt eine Linie der Kunst gerade weiter, die in der Literatur unerhörte Erfolge errungen hat. Uns will scheinen, als wenn die vielseitige Künstlerin auf ihr zu neuen ungeahnten Erfolgen steigen könnte. Schon durch ihre Schönheit, von der jeder sich selbst überzeugen kann.   . . .

Mit glücklichem griff hatte die Regie Dr. Wienes, die vor dem bizarren Hintergrund schön bewegte menschliche Linien zeichnete, den jungen Hans Heinz von Twardowsky in diese krause Welt gesetzt. Sein Florian geistert mit unheimlich bleichem Mördergesicht durch die Handlung.

Den reichen Sonderling, der Genuine auf dem Sklavenmarkt erwarb und als Versuchsobjekt gefangen hält, gab ernst Gronau mit skurriler Gebärde. Als zweiter Liebhaber konnte Harald Paulsen nicht recht aus sich herausgehen, auch die Rolle des Curzon (Albert Bennefeldt) bleibt schon im Manuskript in kurzen Andeutungen stecken. Für die leicht expressionistischen Dekorationen und die märchenhaft schönen Kostüme ist César Klein zu erkennen. Die ausgezeichnete Photographie besorgte Willi Hameister.

Der Film (Berlin) vol. 5, no. 36, 04 Sep 1920, p. 28.

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"Genuine" im Marmorhaus


Da der Autor des Caligari-Films, Carl Mayer, und sein Regisseur Robert Wiene für diese "Tragödie eines seltsamen Hauses" verantwortlich zeichneten, hatte man angenommen, daß die expressionistischen Experimente hier fortgesetzt werden sollten. Allein der Schöpfer der Dekorationen und Kostüme, Cesar Klein, hat sich in diesem Film auf einem ganz neuen Gebiet versucht, das ebenfalls malerischen Reichtum sich breit auswirken läßt, jedoch durch ein Zuviel an unruhigem Linienwerk, an bizarren Arabesken die reine schauspielerische Linie verwirrt. Auch die Vorgänge, phantastisch und grausam, tragen nicht die zwingende Notwendigkeit der Caligari-Handlung in sich. Der weibliche Vampyr dieser Zauberwelt ist Fern Andra. Bei allem guten Willen, sich vom Klischeen freizumachen, gelingt es ihr nicht, den dämonischen Gehalt der Rolle zu versinnlichen. Dagegen überraschen H. H. v. Twardowsky als ekstatischer Jüngling und Ernst Gronau als der irrsinnige Besitzer des Spukhauses durch seinen Instinkt für stilsichere Wirkung. Immerhin ist das Werk als neuer Versuch, den Film aus der Sphäre des Alltäglichen zu retten, beachtenswert.

Vossische Zeitung (Berlin), 04 Sep 1920 (early edition), p. 4.

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Genuine


"Caligari" war, vom künstlerischen Standpunkt aus, ein Erfolg -- der Film "Genuine", der sich mit Bewußtsein in dieselbe Klasse stellt, ist keiner. "Caligari" war aus Schöpferfreude gemacht, "Genuine" ist mit der Absicht geschaffen worden, genau so einen Erfolg zu haben wie das berühmte Muster. Es wird an einzelnen Stellen, wie der Szene auf dem Magistrat, sogar ein bischen nachempfunden.

Aber nicht das ist das Belastende, sondern die mangelnde Intensität mit der die Sache durchkomponiert ist. An Geld ist nicht gespart worden, man hat sich Kostüme und Dekorationen viel kosten lassen. Es ist eine ganze Anzahl hübscher Bilder in dem Film. Man hat sich dazu eigens in César Klein einen expressionistischen Maler von öffentlich bestätigtem Rang geholt. Man hat in Fern Andra eine außerordentlich hübsche und sogar mimisch ausdrucksfähige Schauspielerin verpflichtet, die in 6 Akten rund gerechnet 36 bizarre Kostüme tragen darf: Primadonna, die sie ist, spielt sie sie, wollüstig, grausam, zärtlich, immer mit dem Bewußtsein, daß die ganze Veranstaltung nur da ist, um zu zeigen, wie gut Fern Andra aussieht. Und dazu ist der Film vielleicht wirklich auch nur da. Ein Erlebnis, wie in "Caligari", das einen in das Traumleben mitreißt, einen in die Logik des Wahnsinns (sie ist keine, und ist doch eine) mit Selbstverständlichkeit einspinnt, ist er nicht. Er hat keine suggestive Kraft, bleibt totes Bilderbuch. Es ist alles viel zu sehr mit der kalten Hand gemacht. Man hat ungeheuer bizarre Dekorationne aufgebaut, aber man hat vergessen, Licht und Schatten mitspielen zu lassen. Die Bilder bleiben Photographien. Man hat in diese Bilder eine Handvoll Schaupsieler gestellt die keine innere Beziehung zu dem Stil ihrer Umgebung aufbringen können. Sie spielen, wie sie es in jedem anderen Film gewohnt sind, und wenn sie sich an die besonderen Verpflichtungen des Milieus erinnern, so grimassieren sie gewaltsam und hoffnungslos; man sieht wie sie sich um eine "Auffassung" quälen.

Und ebenso ist die Fabel in ihrem einfachen Fortschreiten zur Katastrophe nicht ergiebig. Das vielgebrauchte Klischee. Das dämonische Weib wird geliebt, läßt töten, liebt endlich "erlöst" selbst und wird (im Augenblick, da der Weg der Fortsetzung bedächtig bürgerlich nach dem Standesamt zeigt) als Hexe erschlagen. Es fehlt an Verwicklung und an Entwicklung, es fehlt an tragischem "Muß". Bei alledem ist der Film nicht schlecht. Er ist ein abend- und häuserfüllender prunkvoller Spielfilm, wie so viele andre, von denen er sich nur durch die aufgeklebte allermodernste Fassade unterscheidet. Aber da Alles daran so geflissentlich darauf angelegt ist, dem Publikum einzureden: "Genau so wie Caligari", so muß darauf hingewiesen werden, wie wenig er wie "Caligari" ist. Dort griffen Beleuchtung, Dekoration, Schauspieler, Regie und Fabel als miteinander wirkende Faktoren einer künstlerischen Einheit ineinander, hier sind sie nur organisch unverbundene Posten auf einer großen Ausgabenrechnung.

Wird dieser Unterschied nicht herausgehoben, so droht uns eine Sturmflut fabrikmäßig hergestellter Filme in "expressionistischer" Manier. Aber nicht die schiefen Dächer und Wände sind das Geheimnis des Erfolgs . . .

Berliner Börsen-Courier vol. 52, no. 415, 05 Sep 1920 (early edition), p. 4.

Fritz Olimsky
Genuine


Zunächst etwas Grundsätzliches.

Expressionismus ist nun einmal die große Modeströmung, da war es ganz selbstverständlich, daß auch der Film danach greifen mußte, wirklich kein Wunder, denn alles sucht und hastet hier nach etwas noch nicht Dagewesenem, ob es nun eine Sensation, ein Trick, ein Bluff oder -- eine ernstzunehmende Kunstrichtung ist, bleibt sich in diesem Wettlauf um das Neue ziemlich einerlei. Da mußte man es mit Naturnotwendigkeit auch mit dem Expressionismus versuchen, zumal die Filmkunst ihrem ganzen Wesen nach darauf hinwies, Ausdruckskunst ist ja beides. Der Decla gebührt der Ruhm, mit ihrem Caligarifilm diesen Weg zuerst beschritten zu haben, ein Experiment, das ganz unzweifelhaft von der größten Wichtigkeit war und es gelang, selbstverständlich gingen die Meinungen im einzelnen weit auseinander, aber darüber hinaus sah doch jeder ein, hier ist Neuland für den Film, hier gibt es ein großes und reiches Betätigungsfeld, ein neuer Weg zur Hinausentwicklung unserer Filmkunst. Nun war die große Frage, wohin würde die weitere Entwicklung führen, sollte die mit Caligari begonnene Filmgattung schroff, extrem weiter ausgebaut werden, oder würde man nach diesem etwas kräftigen Auftakt abbauen, die Filmkunst in volkstümliche Bahnen lenken? Die Decla entschied sich für das erstere und das ist nach meinem Dafürhalten grundverkehrt.

Filmkunst muß Volkskunst sein und bleiben, unsere Spielfilme müssen schon aus Geschäftsrücksichten auf die breite Masse des Volkes zugeschnitten sein, wenn aber das Volk durch einen Kunstfilm dem Kino entfremdet wird, dann ist eben diese Filmkunst auf dem falschen Wege. Ein solcher Film liegt hier vor, es ist völlig ausgeschlossen, daß ein Durchschnittspublikum solch schroff durchgeführten Expressionismus versteht, oder sich auch nur damit abzufinden weiß. Der einfache Mann aus dem Volke muß, wenn er dergleichen sieht, irre werden an seinem bisherigen Liebling, dem Kino, und darum lehne ich diese Richtung ab, nicht weil ich dem Expressionismus als solchem feindlich gegenüberstehe, aber es geht nicht an, daß Filme geschaffen werden, die nur ein Häuflein Auserlesener wirklich versteht und zu schätzen weiß, während sie all den übrigen Tausenden und Abertausenden nichts sein können, diesen Luxus darf sich eine so auf Massen angewiesene Kunst, wie es die Filmkunst nun einmal ist, nicht leisten, die hat sich gefälligst nach dem Begriffsvermögen und der Fassungskraft dieser Massen zu richten, das ist ihre verfl . . . Pflicht und Schuldigkeit.

Dazu kommt noch, daß dieser auf die Spitze getriebene Expressionismus nach meinem Empfinden überhaupt eine ungesunde Richtung ist, er erfordert auch eine eigens darauf zugeschnittene expressionistische Handlung, sodaß Handlung und Inszenierung dem wirklichen Leben gleich fern stehen. Nun ist aber die höchste und erhabenste Aufgabe aller Kunst immer noch, dem vollen lebendigen Leben abgelauschte Werte einer möglichst breiten Masse zu vermitteln, davon kann aber hier schon gar keine Rede sein, sodaß man, wenn man die Dinge recht betrachtet, schließlich nur zu der Frage kommt: Wozu das alles?

Genuine, die Tragödie eines seltsamen Hauses, heißt der neue expressionistische Decla-Film, und seltsam genug ist dieses Haus in der Tat, der Autor, Carl Mayer, hat diesmal nach meinem Empfinden seine Phantasie etwas zu reichlich spielen lassen. Diese Genuine ist eine märchenhaft schöne Frau, die im Hause eines Sonderlings und von diesem sorgfältig behütet lebt, in den Banden eines äußerst geheimnisvollen Blutkultes, von dem wir im übrigen nur andeutungsweise einiges erfahren. Dunkle Gerüchte sind im Städtchen über den Sonderling und das seltsame Haus verbreitet, aber man weiß nichts Näheres, denn niemand hat dieses Haus je betreten dürfen außer einem alten Barbier, der den Sonderling täglich zu rasieren hat. Eines Tages ist er verhindert, und sein Lehrling unterzieht sich dieser Arbeit, er bekommt Genuine zu sehen, gerät in die Gewalt ihres infolge des Blutkultes dämonischen Wesens und tötet auf ihr Geheiß den alten Sonderling. Heiße Liebe zu Genuine verzehrt ihn, und schließlich tötet er sie in einer Art Liebeswahnsinn. Dies in ganz großen Zügen ist die Handlung. In der Titelrolle hatte Fern Andra ausgiebig Gelegenheit, ihren bewunderungswürdig schönen Körper in den verschiedensten expressionistischen Kostümen zu zeigen, ihr eigentliches Spiel war in dieser Rolle reichlich gleichförmig, voll heißer, verzehrender Glut. Den Sonderling gab Ernst Gronau trefflich stilisiert, den Barbier John Gottowt, der nur in mancher Beziehung zu sehr an Werner Krauß erinnerte, sodann ist noch Hans Heinz v. Twardowski zu nennen, dessen durchgeistigtes Gesicht den äußerst sensiblen Barbierlehrling glaubhaft machte. Die aller Achtung werte Regieleistung ist ein Werk Robert Wienes, während C. Klein großenteils über Caligari hinausging, sich teilweise auch ein wenig mäßigte, so sind z.B. Fenster und Türen hier wieder rechtwinklig. Besonders glänzend fand ich den Märchenwald und das Polizeibureau mit seinen Beamten. -- Im Marmorhaus prallen jetzt allabendlich die Gemüter ziemlich heftig aufeinander, die einen pfeifen, andere klatschen auch wohl und all das im Streit um den Wert oder Unwert eines Werkes, das in meinen Augen nichts weiter ist als -- eine interessante Giftpflanze.

Berliner Börsen-Zeitung 05 Sep 1920. Quoted from: Film und Presse (Berlin) vol. 1, no. 9, 11 Sep 1920, p. 222.

Anonymous
Genuine


Carl Mayer hat wieder einen symbolischen Film geschrieben; er ist aber weit dunkler als der von der Tänzerin, deren Küsse den Männern den Tod bringen. Seine "Genuine", die zum ersten Male im Marmorhaus gezeigt wurde, ist ein höchst seltsames Wesen, das ein ebenfalls höchst seltsamer Lord einstmals auf einem Sklavenmarkt gekauft hat und das mit ihm in einem mystischen Haus wohnt, das nur ein Barbier, sein Lehrling und ein hünenhafter indischer Diener betreten darf. Um die Seltsamkeiten noch mehr zu steigern, nimmt Mayer noch den Futurismus für die Ausstattung zu Hilfe, der — gern zugestanden — ganz einzigartig-schöne Effekte erzielt. Nur überwuchert die Dekoration die Handlung, das Filmbild wird zugunsten der Dekorationen erdrückt. Genuine trinkt das Blut ihrer Opfer und befiehlt dem Barbier, dem Lord die Kehle durchzuschneiden, und der Lehrling schreit und jammert nach seiner Genuine, die sein gestorbenes Märchen sein soll. Es geht so kraus in dem Film zu, daß man beim besten Willen nicht aus der Handlung klug wird. Fern Andra spielt die Genuine, mit allen raffinierten Künsten, die ihr eigen sind, aber doch unaufdringlich. Sie schiebt sich diesmal nicht in den Vordergrund, sondern fügt sich dem Gang der Ge-[p. 223:]schehnisse diskret ein. John Gottowt und Hans Heinz v. Twardowski machen den Film auch nicht verständlicher, trotzdem sie gewandt spielen.

Berliner Lokal-Anzeiger 05 Sep 1920. Quoted from: Film und Presse (Berlin) vol. 1, no. 9, 11 Sep 1920, pp. 222-223.

--ch
Genuine
von Carl Mayer


Was mir als das Allererfreulichste an unserer deutschen Filmindustrie erscheint, ist ihr stetes Fortschreiten, ihr unermüdliches Suchen nach der einzig richtigen Form des Films, jener Form, der die Zukunft gehört. Es scheint ein stillschweigendes Einverständnis zwischen allen ernst zu nehmenden Filmfabrikanten darüber zu herrschen, daß die Produktion noch immer nicht auf dem richtigen Wege ist und daß dieser Weg gefunden werden muß, damit einst die deutsche Produktion auf dem Weltmarkte an der Spitze stehe. Einen bemerkenswerten Schritt in einer bestimmten Richtung unternahm seinerzeit die Decla-Bioskop, als sie mit dem Filme: "Das Kabinett des Dr. Caligari" die gesamte Branche und den denkenden Teil des Publikums überraschte. Nun ist diese Firma auf dem von ihr vorgezeichneten Wege einen Schritt weitergegangen und hat von neuem mit dem Filme "Genuine" alles, was Anteil an der Entwicklung einer richtigen Filmkunst nimmt, überrascht. Auch Genuine ist vorläufig noch ein Versuch. Als solcher eingewertet, ruft er lebhaftes Interesse hervor. Er ist umsomehr anzuerkennen, als sich wohl die Decla schon bei Herstellung dieses Werkes sagen mußte, daß sie mit dieser eigenartigen Schöpfung keinen Geschäftsfilm im eigentlichen Sinne des Wortes auf den Markt brachte.

Was in erster Linie auffällt, wenn man Genuine mit dem Kabinett des Dr. Caligari vergleicht, ist der Umstand, daß die künstlerische Form wesentlich einheitlicher gehalten ist gegen den früheren Film. Darstellung und Inszenierung harmonieren dieses Mal vollkommen miteinander.

Nicht ungesagt kann bleiben, daß das Manuskript des neuen Filmes ganz erheblich schwächer ist als des früheren. Die Handlung ist mitunter schleppend und vermag nicht, die Spannung des Beschauers bis zum Schluß voll aufrecht zu erhalten.

Die Dekorationen waren erstaunlich originell, wirkten aber teilweise so unruhig, daß das Spiel der Darsteller beeinträchtigt wurde. Einige Innenräume ließen den Ruhepunkt für das Auge vermissen.

Erfreulich war die Darstellung, an deren Vollkommenheit Robert Wienes Regie einen nicht geringen Anteil hatte.

Die Genuine Fern Andras war eine Leistung, die diese Künstlerin unbedingt in die erste Reihe der Filmdarstellerin treten läßt. Vielleicht hätte etwas mehr blutdürstige Wildheit die Rolle glaubwürdiger gemacht. Von den übrigen Mitwirkenden fielen durch eine besondere Note Ernst Gronau, Hans Heinz von Twardowski und John Gottowt auf.

Die Dekorationen schuf der Maler César Klein, die ausgezeichnete Photographie stammt von Willy Hameister.

Film und Presse (Berlin) vol. 1, no. 9, 11 Sep 1920, p. 221.

G.P. [Georg Popper]
Waterloo-Theater
Genuine


Die Hamburger Uraufführung des zweiten Carl-Mayer-Films (Autor von "Cabinett des Dr. Caligari") fand gleichzeitig mit der Berliner statt. Hier wie dort derselbe große, einmütige Erfolg.

Carl Mayers neues Werk, ebenfalls dem fantastisch-expressionistischen Genre zugehörig, nutzt die Erfahrungen, die mit "Caligari" gemacht wurden, aus. Baut aber gleichzeitig weiter. Vervollkommnet. Das Gedankliche tritt in den Vordergrund. Die Handlung, stellenweise unpsychologisch, oft sogar unkonsequent durchgeführt, muß sich der Grundidee unterordnen. Das Ganze: ein buntes, grelles, fantastisch-magisches Potpourri grotesker Einfälle. Aber neu! Und immer reizvoll. Immer fesselnd. Trotz der gewaltigen Länge nie ermüdend.

[p. 18:] Die Aufführung, unter der blendenden Regie Robert Wienes, macht der Decla-Bioscop-Gesellschaft alle Ehre. Man darf nicht vergessen: es war ja immerhin (trotz aller günstigen Aufpizien!) ein Wagnis. Und gelang. Gelang vollkommen. Weil alle beteiligten Faktoren Bestes boten: die Dekorationen und Kostüme, die Photographie und die Darstellung. Sie ganz speziell. Nirgends etwas auszusetzen. Genuine ist Fern Andra: alle ihre körperlichen Reize spielen lassend; dabei aber auch mimisch auf einer beachtenswerten Stufe. Ernst Gronau als Sonderling außerordentlich charakteristisch. John Gottow als Friseur ebenfalls einwandfrei; Harald Paulsen (Percy), Albert Bennefeld (Curzon) und Lewis Brody (Malaye) durchaus den Inhalt ihrer schwierigen Partien ausschöpfend. Hans Heinz von Twardowsky aber schoß den Vogel ab. Seine Leistung: einfach hinreißend. Das spielt ihm so leicht keiner nach.

Hamburger Theaterzeitung vol. 2, no. 37, 17 Sep 1920, pp. 17-18.

Anonymous
Naturalistischer oder phantastischer Film?
[Double review of "Sumurun" and "Genuine", excerpt]


[... p. 1220:] Originelles bringt Robert Wiene, der Regisseur der "Genuine". Ich habe die Novelle von Carl Mayer gelesen, aus der der Film entstand. Es zeugt für den Film, daß die gedruckte Novelle keinen Eindruck machte. Sie ist eben für den Operateur geschrieben, für den Leser müßte sie von Grund auf umgedichtet werden. Einige literarische Reminiszenzen, die im Film blieben, nutzen ihm deshalb nicht, z.B. die Blutsauferei. Derlei kann man (bei H.H. Ewers) vielleicht lesen, sehen will man das bestimmt nicht, es verdrießt statt zu packen. Doch das ist Nebensache. Hauptsache ist: "Genuine" ist nicht naturalistisch. Der Film ist von der ersten Szene an unwirklich und phantastisch und eben deshalb bannend. Wir haben genug fortrasende Autos, Sprünge vom Dach, zweitausend laufende Menschen im Kino gesehen. Der künstlerische Film, das wird der unnaturalistische sein! Dieser Forderung kommt das Buch Mayers entgegen, diese Forderung erfüllen vor allem Cesar Kleins suggestive Bilder, ihr gehorchen die Schauspieler, vor allem der unheimliche Ernst Gronau, der kuriose John Gottowt, der entleerte Knabe Hans Heinz Twardowski. Sogar Fern Andra wirkt momentelang phantastisch, in der Vorstadt wird ihre rundliche Dämonik sogar schauerlich wirken.

"Sumurun" ist der Schlußpunkt der klassisch-naturalistischen Richtung, "Genuine" ist der Anfang des kommenden phantastischen Films. Nur ein Anfang, aber ein starker, verheißender Anfang.

Das Tage-Buch (Berlin) vol. 1, no. 37, 25 Sep 1920, pp. 1219-1220.

Christian Flüggen
Genuine


(Decla-Bioscop.) Der Name der Firma, der Name der Diva, die ganzen Aufmachungen lassen erkennen, daß mit diesem Film etwas besonderes geschaffen werden sollte, eine Art Extraklasse etwa; Qualitätsware, Neuland. Ein solches Streben über das Gewohnte hinaus, verdient immer Anerkennung. Gleichwohl hat die Kritik die Aufgabe, zu prüfen, ob diese Absichten erreicht wurden, oder bis zu welchem Grade oder ob dem starken Wollen ein unzulängliches Können gegenüberstand. Die letzte Frage scheidet vollständig aus. Der Film ist äußerst geschickt gemacht, die Technik entfaltet, geleitet von schöpferischer Kraft, ihre ganzen Wunder. Wenn der Film trotzdem keine durchgreifende Wirkung erzielt, wenn der Zuhörer nicht restlos mitgeht, wenn er nicht gerührt, gefesselt, gebannt wird trotz Technik und trotz Fern Andra, -- woran liegt das? Wir glauben uns nicht zu irren, wenn wir dem Manuskript die Schuld geben. Ein schlechtes Manuskript also? O nein! Ganz und gar nicht. Jede Szene steht am richtigen Platz, aber in keiner Szene ist Platz für Herz und Gemüt. Dem Filmautor den Flug ins phantastische Land wehren, hieße ihn wertvoller Werkzeuge berauben. Nie vergesse aber der Autor, daß es Menschen von Fleisch und Blut sind, die er zu seinem Ausflug ins Phantastische mitnimmt, Menschen, die nicht auf Kommando ihre Gefühlskomplexe verlassen können, Menschen, die auch im phantastischen Lande das erleben wollen, was zum Innersten ihres Herzens, zum Tiefsten ihrer Seele spricht. Das sich selbst im Traumland wiederfinden, ist Ziel und Sinn jeder Dichtung. Und gerade gegen diese Forderung verstößt das Manuskript. Genuine, das märchenschöne Mädchen, ist irgendwo in einem exotischen Lande in die wahnsinnige Geheimsekte der Menschenbluttrinker geraten, weigert sich zuerst, diesen Kult mitzumachen, schließlich nimmt sie aber doch den Blutbecher und ist damit dem furchtbaren Banne verfallen. Die Sekte wird bei einem blutigen Opfermahl aufgehoben, die Mitglieder werden fortgeschleppt, Genuine wird auf einen persischen Sklavenmarkt gebracht, wo sie der reiche Lord Melo käuflich erwirbt, der sie in sein einsames Haus in einer irischen Stadt mitnimmt. Und hier begibt sich die Tragödie. In Genuine, die schon einmal aus dem Blutbecher trank, erwacht die Gier nach Blut. Sie zwingt durch die Macht ihrer dämonischen Schönheit einen jüngeren [p. 4:] Barbiergesellen, dem Lord den Hals abzuschneiden, sie befiehlt in ihrem Blutrausch dem schwarzen Diener des Hauses, den Barbiergesellen zu töten, damit sie dessen Blut trinke. Der Wilde ist aber doch ein besserer Mensch, er läßt den jungen Barbier laufen, verwundet sich aber mit seinem Dolch am Arm, läßt das Blut in einen Becher träufeln, den er Genuine reicht, die -- -- dessen Inhalt ausschüttet. Diese menschliche Rührung hält auch an, als der reiche Enkel des ermordeten Lord kommt. Genuine wird auch diesem jungen reichen Aristokraten eine Huldin und vergißt darüber ihre Bluttrinkersekte und den proletarischen Barbier. Dieser aber kann nicht vergessen. Er sucht Genuine wieder auf und tötet sie, nachdem sie erklärt hat, nicht sein, sondern des reichen, jungen Aristokraten Weib werden zu wollen. Aus dieser flüchtigen Skizze des tatsächlichen Inhalts mag man erkennen, daß in dem Stück so viel Gewaltsames, Unwahrscheinliches und Unmögliches steckt, daß es eben ganz einfach nicht interessieren kann. Die Regie war sich dieses Mankos offenbar bewußt und suchte durch phantastische Inszenierung, durch starke Betonung des Spukhaften die vom Autor offenbar beabsichtigte märchenhafte Stimmung zu erreichen. Und das ist Robert Wiene, dem Regisseur, gelungen, soweit er natürlich durch die Dichtung daran nicht ganz und gar gehindert wurde. In Cesar Klein hatte er hierbei einen Künstler zur Seite, dem es gegeben ist, das phantastische Milieu realistisch zu gestalten. Ganz ausgezeichnet, ein Meisterglück stimmungsstarker Regie, unterstützt durch charakteristische Gestaltung des Raums sind die Szenen auf dem Rathaus. Hier ist Stil und dadurch Kunst. Das Portal zum geheimnisvollen Haus des Lord hätten wir dagegen etwas veritterter gewünscht, echter, auch der Aufmarsch der Ortseinwohner zum Haus der Hexe mutet zu gestellt an. Aber sonst ist der Film ein bedeutsames Werk der Regie, ein Werk, auf das die deutsche Regiekunst stolz sein kann. Der Regie ebenbürtig sind die Bilder, und ebenbürtig ist ihr Fern Andra, sie Genuine! Eine Gestalt voll Leidenschaft und reizvoller Schönheit, eine Künstlerin!

Deutsche Lichtspiel-Zeitung (Munich, Berlin) vol. 8, no. 40, 09 Oct 1920, pp. 3-4.

Carmen
Genuine


Fern von den Straßen, die wir am Alltag wandern, führt die Tragödie von "Genuine" uns ins weite, schrankenlose Reich der Phantasie. Ein seltsames Zauberwesen, himmlisch schön und mit höllischen Trieben ist diese Genuine, deren geheimnisvolles Schicksal sich uns offenbart. Sie lebt im Hause eines Sonderlings, der sie als ungezähmtes Wesen mit tierischen Instinkten auf einem Sklavenmarkt erwarb. Sie ist schön, die persische Sklavin, die in bunten, phantastischen Gewändern durch des Alten düsteres Haus wandelt. Ein herrliches Prunkgemach hat er ihr erbaut, hier verbringt sie ihre Tage gezähmt und anzuschauen wie eine liebliche irdische Frau. Aber der Durst nach Menschenblut, der dunkel triebhaft in ihr wohnt, läßt sie nicht ruhen, jagt sie katzenhaft schleichend durchs Haus. So sieht sie Florian, den jungen Barbier, einen verträumten, weichen Gesellen, der gerade den alten Sonderling, den Herrn Genuines, rasiert. Geblendet von ihrer Erscheinung, die ihm die Verkörperung seiner Jugendträume scheint, ist er leicht dazu zu bewegen, den Alten zu töten. Genuine trinkt sein Blut und steckt seinen Ring an den Finger. Auf dem Ruhebett neben Genuine erlebt Florian Augenblicke seligsten Erdenglückes, sein "Märchen" ist zu ihm hinab auf die kalte Erde gestiegen, mit Augen, die ganze Märchenbände aufgefangen zu haben scheinen, trinkt er ihren fremdartigen Reiz. -- Genuine dürstet aber wieder einmal nach Menschenblut und [p. 375 pictures, p. 376:] der schwarze Diener soll ihr den Gefährten vom Lager reißen und ihn töten. Das Mitleid siegt in dem Schwarzen, er läßt Florian entkommen und bringt der Herrin sein eigenes Blut. Schaudernd und von innerer Ahnung getrieben, weist sie den Pokal zurück. Des getöteten Sonderlings Enkel betritt das geheimnisvolle Haus. Auch er gerät in Genuines Bann. Sie spielt und kost mit ihm und dürstet auch nach seinem Blut. Doch der Blutdurst wird erdrückt von anderen Gefühlen. Genuine entbrennt in wirklicher Liebe zu dem jungen Manne. Ihre Liebe erlöst sie von den dunklen Trieben, sie wird ganz liebendes Weib mit rein menschlichen Empfindungen. So ist sie glücklich, als sie sieht, daß Florian lebt und spricht ihm von ihrer Liebe. Der aber gönnt sein "Märchen" keinem Anderen, er tötet Genuine. -- -- Diese phantastische Fabel hat Carl Mayer erträumt und Robert Wiene hat sie gemeinsam mit Cesar Klein lebendig gemacht. Fern Andra, von ihrem Regisseur meisterhaft geführt, verkörpert das seltsame Wesen durchaus glaubhaft. Hans Heinrich von Twardowsky verleiht dem Florian ergreifende Innerlichkeit, gibt ihm seine großen Märchenaugen, seine schlanke Jünglingshaftigkeit. Die kleineren Rollen sind mit Ernst Gronau, John Gottowt, Harald Paulsen und Albert Bennefeld gut besetzt. -- -- Da Cesar Klein Schöpfer der Dekorationen und Kostüme ist, wird man den Film als expressionistischen Film zu verschreien suchen. Genuine will nicht dem Expressionismus die Leinwand erobern, Genuine ist ein Stilfilm, der neue Ausdrucksmöglichkeiten schafft und weite Perspektiven eröffnet.

Der Film ist eine Meisterleistung der Film-Bioscop-A.-G., die mit seinem Verständnis für das innere Wesen des Films auch vor nicht alltäglichen Versuchen nicht zurückschreckt.

Illustrierte Film-Woche (Berlin) vol. 8, no. 37/ 1920, pp. 374-376.

Rudolf Kurtz
Genuine


Der Erfolg des Caligarifilms ermunterte zu Genuines Geburt. Was dort Versuch war, sollte nun Erfüllung werden. Die Architektur wurde einem Maler von Rang anvertraut: César Klein. Die Beziehung zum großen Publikum sollte durch eine andere Größe verbürgt werden: Fern Andra.

Die Führung des Genuine-Films übernahm der Maler. Kleins dekorativer Expressionismus ist reines Kunstgewerbe. Überladenes, übersteigertes, orientalisches Teppichmuster mehr als Gestaltung von Raumelementen. Etwas, das in Farbe blühend seinen Reiz hat, ist durch die Photographie des entscheidenden, seines einzigen Lebenswertes entkleidet worden. Und der geheimnisvolle Zusammenklang, der sich in der Zusammenstellung eines phantastisch einsamen Greises, einer erdenfernen Frau, einem Neger und einem blonden Jüngling ergab -- diese Harmonie scheiterte an dem nicht umzubringenden Naturalismus der Hauptdarstellerin.

Und daran vermochten Kleins Entwürfe nichts zu ändern, seine Kostüme nicht, die ein raffiniertes Gemisch aus dem spielerischen Orientalismus Poiręts waren: von Schleiern, blühendem Fleisch und geheimnisvoll bestickten Stoffen. Nichts ging zusammen, es blieb ein verwirrtes schillerndes Bild, das auch im Stoff keine Stütze fand. Carl Meyer hat absichtsvoll auf Expressionismus geschrieben: die Handlung ist bewußt geheimnisvoll, alle Linien planmäßig verwischt. Das geistige Signalement der Figuren ist im Dunkel gelassen, die Ereignisse selbst nur als grelle Farbklexe hingesetzt, ohne ihnen psychologisch oder intellektuell Voraussetzungen für das Verstehen zu schaffen.

Irgendwo ein Sonderling, kahlschädelig, mit seltsamer Eleganz und irren, verhaltenen Augen. Fern lebt er, am Rande der Welt, in einer kleinen Stadt: eingekapselt in einem großen Steinbau, in den keine Seele dringt. Schweigend starren die hohen Mauern in den Abend, umspült vom Grauen des Volks, das Geheimnisvolles ahnt und mit scheuem Verdacht den einzigen Menschen betrachtet, der morgendlich durch das schwere kaum geöffnete Tor schlüpft: der Barbier. Der alte Barbier ahnt nichts von Geheimnis: er rasiert mit unendlicher Sorgfalt die gelben Wangen des Alten, ein hühnenhafter Neger begleitet ihn hinaus, entläßt ihn, und alles andere ist stumm, dunkel und undurchdringlich. [p. 71 illustration, p. 72:]

Eines Tages schickt er seinen jungen, verträumten Gehilfen Florian in das Haus. Ein Jüngling, frühlingshafter Sehnsucht voll, nach Leben und Abenteuern in sanfter Seele gierig. Ihm wird das Haus Schicksal. Der Atem der hohen, grauenhaft prunkenden Räume lastet schwer, geheimnisvoll ist die Stille, ein lebendes Gespenst der gelbe, kahle Alte. Und plötzlich löst sich aus grell bestickten Vorhängen, herumgeschleuderten Flächen, lichtblitzenden Linien ein Formteil, ein lebendgewordenes Phantom, nein, ein Mensch, ein Mädchen, süß im Geheimnis, fern in der Sehnsucht, erdenweit im Aufschlag des Auges. Sie ist der Geist dieser Dinge, ohne Heimat, ohne Schicksal, ohne Sinn und ihre dunklen Augen saugen dem Jüngling Geheimnis aus der Seele, Willen schmilzt, nur der Hauch dieser Haut, der Duft dieser Hände, die Süße dieses Mundes. Traum umfängt ihn, Traum-Meer spült an ihm herauf. Irgendwoher stachelt sich Blutrausch in ihm auf, Blick von süßen, fernen Augen, das scharfe Messer in seiner Hand -- das Rasiermesser in [p. 73:] seiner Hand! Und mit durchschnittener Kehle verblutet der Alte am Boden.

Dann wieder ein Irren unter nassen Bäumen, ein Zusammenbrechen in der Schlafkammer und wieder Da-Sein im alten Haus, das sich schweigend vor dem Jüngling öffnet. Da löst sie sich aus den geheimnisvollen bestickten Schleiern: fern, lockend, grausam -- mit der sinnlichen Anmut schlanker, brutaler Tiere, und wieder öffnet sich ein Messer, ein Blitzen und am Boden verblutet Genuine, dunkel, sterbend, blaß verebbend.

Volk dringt ein, scheu, blond, vom Geheimnis verdeckt, steht Florian in einem Winkel. Seine Augen sehen nur eins, seine Ohren hören nur eins. Es ist immer nur ein Wort da, das wie ein gespenstischer Schall durch alle Räume schwingt: Genuine. Ein Bild, das alles entschuldigt: Genuine. Das Winken einer Hand, das Dolch und Gift verständlich macht: Genuine. Ein atemberaubender, würgender Reiz: Genuine. Und Sterben ist einfach, denn Genuine ist tot.

Dieser einfache, aber starke Reiz, den der Dichter vergegenständlichen wollte: erdenfernes Geschöpf im einsamen Haus, ist im Überwuchern des Ornaments verpufft. Genuine ist ein Ausstattungsfilm, der in seinem unorganischen Durcheinander das Auge mehr schmerzt als erfreut. Die Gestalten bleiben ohne Umriß, die Handlung im Nebel. Jede Führung verlorengegangen. Genuine steht auf keinem Boden: weder in der Wirklichkeit des Tages noch in der der Kunst. Statt straffer Komposition, statt Beschränkung auf sparsame, aber stark bewegte Formen, die der expressionistische Film hergibt, ist eine Oper in wildem Stil zustande gekommen. Die Schauspieler wirken auf Rhythmus trainiert, ohne daß eine Atmosphäre entsteht, die wiederum die Schauspieler auf kunstvolle Weise bedingt. Und von der Heldin erwartet man eigentlich immer eine Arie.

Genuine ist ein expressionistischer Film, weil Expressionismus ein Erfolg war. Aber statt einer Methode der Komposition, wurde er sozusagen Inhalt des Films. An diesem paradoxen Zwiespalt verblich der expressionistische Film. Genuine war der offizielle Nachweis, das diese Filme kein Geschäft sind. Die "Konjunktur" war zu Ende.

Rudolf Kurtz: Expressionismus und Film. Berlin: Verlag der Lichtbildbühne 1926 (Reprint 1965: Zürich: Hans Rohr), pp. 70-73.



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NOTES



Fern Andra stellt zurzeit bei der Decla-Bioscop die letzten Szenen des von Robert Wiene inszenierten Films "Genuine" fertig. Der Film verspricht einer der interessantesten der Saison zu werden.

Lichtbild-Bühne (Berlin) vol. 13, no. 32, 07 Aug 1920, p. 48.

"Genuine" -- die kommende Sensation

Der große Decla-Film "Genuine" mit Fern Andra wurde von Dr. Robert Wiene im Rohabzug bei der Decla-Bioscop A.-G. zum ersten Male vorgeführt. Kenner behaupten, daß sich in diesem Filmwerk, in welchem Fern Andra als Schauspielerin eine Meisterleistung bietet, eine Sensation vorbereitet, welche den Erfolg vom Caligari weit übertreffen dürfte.

Der Film (Berlin) vol. 5, no. 35, 28 Aug 1920, p. 36
and Lichtbild-Bühne (Berlin) vol. 13, no. 35, 28 Aug 1920, p. 41 [in Lichtbild-Bühne without headline].

Genuine redivivus

Wie wir erfahren, wird der Decla-Film "Genuine" mit Fern Andra in der Hauptrolle demnächst auch in Paris gezeigt werden, nachdem der Erfolg des "Caligari" diesem eigenartigen deutschen Genre den Weg geebnet hat. Allerdings mußte der Regisseur des Films, Robert Wiene, eine gründliche Bearbeitung des Films und durchgreifende Aenderungen vornehmen, um das Bildwerk für Frankreich und vor allem für die französische Zensur annehmbar zu machen.

Der Vertrieb von "Genuine" in Frankreich erfolgt durch die International Film Exchange, die bekanntlich in Berlin eine Zweigstelle unterhält.

Der Film (Berlin) vol. 7, no. 19, 07 May 1922, p. 53.



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ADS



The Genuine publicity campaign

Genuine ad Mirroring the Caligari ad campaign, the Decla used ads like this scattered in the film trade press.

[Here taken from Lichtbild-Bühne (Berlin) vol. 13, no. 35, 28 Aug 1920, p. 39]




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LITERATURE



general literature



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Last update (this page): 01 Sep 2005.

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