BOOK REVIEW

Anke Wilkening
Filmgeschichte und Filmüberlieferung
Die Versionen von Fritz Langs SPIONE 1928

Filmblatt-Schriften, Bd. 6
Berlin: CineGraph Babelsberg 2010
96 Seiten, deutsch, 20 Abbildungen
ISBN 9783936774061
    Anke Wilkening - Spione

SPIONE ist ein wilder Agentenfilm, den Fritz Lang nach dem finanziellen Misserfolg seines Monumentalwerks METROPOLIS und dem Ausscheiden Erich Pommers aus der Ufa drehte. Der Film ist sowohl ein Prototyp des Agentenfilm-Genres als auch eine Reflektion zeitgenössischer Genre-Konventionen und – wie immer bei Lang – tagesaktueller Ereignisse: So ist, um nur ein Beispiel zu nennen, das Aussehen Rudolf Klein-Rogges, der den Drahtzieher eines Spionagerings spielt (Buchcover), angelehnt an den sowjetischen Spion Khinchuk, dessen Londoner Spionagenest kurz vor den SPIONE-Dreharbeiten im Jahr 1927 von der britischen Polizei ausgehoben worden war ("Arcos-Affäre").

Die Figur des allmächtigen Spionagekönigs, dem dennoch die Kontrolle entgleitet, kann aber auch als Reflektion Langs eigener Rolle als Künstler gedeutet werden, der es gewohnt war, die totale künstlerische Kontrolle über seine Werke zu haben, sich nun aber mit veränderten Produktionsbedingungen der Ufa abfinden musste. Die Autorin Anke Wilkening argumentiert, dass es genau diese veränderten Produktionsbedingungen waren, die einen größeren Einfluss auf die Gestaltung von SPIONE ausübten als Langs künstlerischer Wille.

Der Film ist in seiner deutschen Premierenfassung vom März 1928 nicht erhalten geblieben, sondern nur in verschiedenen in Archiven erhaltenen Verleihversionen, die für unterschiedliche internationale Bedürfnisse unterschiedlich montiert worden waren. Die in Archiven in Moskau und Prag überlieferten Versionen kommen vermutlich der zweiten deutschen Zensurfassung vom April 1928 am nähesten. In den Jahren 2003/04 fertigte die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Bewahrerin des deutschen Filmerbes und Rechteinhaberin der Ufa-Filme, eine Restaurierung von SPIONE an, deren Ziel es war, eine möglichst vollständige Annäherung an diese zweite deutsche Zensurfassung zu erstellen. Geleitet wurde dieses Projekt von der Restauratorin Anke Wilkening, die 2010 unter anderem auch für die groß angelegten Restaurierungen der Lang-Filme METROPOLIS und DIE NIBELUNGEN verantwortlich war.

Wilkening dokumentiert nun mit diesem kleinen Büchlein die Restaurierung von SPIONE und legt uns damit Notizen vor, die normalerweise allenfalls in internen Arbeitsunterlagen der Filmarchive zur Verfügung stehen und der Öffentlichkeit selten zugänglich gemacht werden. Ihre Beschreibungen des Films enthalten sowohl Materialanalysen der verschiedenen Film-Versionen, als auch ein genaues Restaurierungsprotokoll und eine inhaltliche Analyse der (in den jeweiligen Versionen unterschiedlichen) narrativen Strukturen. Daraus ergibt sich die Identifizierung insgesamt fünf verschiedener Versionen des Films, die ihrerseits auf drei unterschiedliche Urversionen (Kameranegative) zurückgehen. Auf diese Weise war es möglich, die für das Restaurierungsprojekt tauglichen Materialien auszuwählen. Quasi als "Nebenprodukt" (S. 8) fiel dabei ein Vergleich der überlieferten Versionen an, der in dem vorliegenden Buch vorgestellt – und zur Grundlage interessanter filmhistorischer Spekulationen gemacht wird.

In der Beschreibung der verschiedenen Versionen kommt Wilkening zu dem Schluss, dass die deutsche Version "eine sehr komplexe Struktur aufweist und ein intellektuelles Spiel mit den Konventionen des Kriminalfilmgenres treibt", während die für den englischen und amerikanischen Markt produzierten Versionen diese Komplexität zugunsten einer stringenteren und konventionelleren Handlungsführung reduzieren und somit durch Neuanordnung des Materials "konventionelle Genrefilme generieren." (S. 41) Durch Recherche der Produktionsbedingungen, unter denen SPIONE entstanden ist, benutzt Wilkening diese Erkenntnis dann zu einer darüber hinaus gehenden Interpretation: Nachdem Fritz Lang das METROPOLIS-Budget so hemmungslos überschritten hatte, dass er die Ufa beinahe in den Ruin und Erich Pommer zum Abgang getrieben hatte, machte die Ufa Lang selbst zum Produzenten seines nächsten Films – eben SPIONE – und zwang ihn, sich mit seiner eigenen Produktionsfirma an den Herstellungskosten zu beteiligen. Damit eröffnete sie ihm aber auch die Möglichkeit, von den Einnahmen aus dem Auslandsgeschäft zu profitieren. Und daher, so lautet Wilkenings Annahme, fertigte Lang vermutlich bereits während des Produktionsprozesses seinen neuen Film absichtlich so an, dass er leicht für die verschiedenen Bedürfnisse der internationalen Märkte verändert werden und somit maximalen Profit abwerfen konnte. "Der rücksichtslos verschwenderische Künstler wandelte sich zum kalkulierenden Geschäftsmann." (S. 65)

Dieses Buch ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie aus der Arbeit der Filmrestauratorin mit dem Material und damit verbunden der Befassung mit verschiedenen Versionen des Films eine Erkenntnis über die filmhistorische Bewertung eines Films entstehen kann, auf die ein traditioneller Filmhistoriker, der nur nach dem einen "Original" sucht, das vermeintlich den Intentionen der Filmautoren entspräche, niemals kommen würde. Wilkenings SPIONE-Buch ist somit ein Beispiel für moderne, empirisch orientierte Filmgeschichtsschreibung.

SPIONE, in Wilkenings Murnau-Restaurierung, ist in den USA, England, Frankreich und Spanien als Einzel-DVD erschienen, in Deutschland innerhalb der Fritz Lang Collection. Dort befindet sich auf einer Bonus-DVD auch die 70-minütige Dokumentation "Ein kleiner Film, aber mit viel Action" von Wilkening und Guido Altendorf.

OLAF BRILL
01 Nov 2010
Buchvorstellung

Zeit: Dienstag, 2. November 2010, 19:00 Uhr (Eintritt frei)
Ort: Zeughauskino / Deutsches Historisches Museum, Unter den Linden 2, 10117 Berlin

anschließend Filmvorführung SPIONE, Klavierbegleitung: Peter Gotthardt


Zeughauskino / Deutsches Historisches Museum
Filmblatt-Schriften

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filmhistoriker.de, edited by olaf brill.

Last update (this page): 01 Nov 2010.

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