DVD REVIEW

VON MORGENS BIS MITTERNACHTS (1920)
Regional Code 0,
silent with two musical scores, b/w,
approx. 73 mins, German intertitles;
English, French, Spanish subtitles
Edition filmmuseum,
released July 2010
    Von morgens bis mitternachts DVD Cover
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Ende der Zehner Jahre des letzten Jahrhunderts hatte die Welle des Expressionismus in der Kunst ihren Höhepunkt erreicht und konnte kommerzialisiert werden. Resultat war, dass der Expressionismus auch als Gestaltungsmittel des kommerziellen Films eingesetzt wurde und im Jahr 1920 der expressionistisch stilisierte Psycho-Thriller DAS CABINET DES DR. CALIGARI als Einzug der Kunst ins Medium Film gefeiert wurde. Im selben Jahr drehte der expressionistische Theaterregisseur Karlheinz Martin seinen ersten Film, der in seinem Expressionismus viel radikaler war als CALIGARI und der das Schicksal anderer radikaler Kunstwerke teilte: VON MORGENS BIS MITTERNACHTS, nach Georg Kaisers Bühnenstück, wurde überhaupt kein kommerzieller Erfolg, denn er fand nicht einmal einen Verleih und verschwand sofort wieder von der Bildfläche.

In Deutschland wurde der Film, soviel wir wissen, lediglich im Februar 1922 in einer Presseaufführung in München gezeigt; danach ist er in Japan gelaufen, wo die dortigen Filmkritiker ihm höchstes Lob zollten. Dann galt er lange Zeit als verschollen, bis Ende der Fünfziger Jahre in Tokio eine einzige Nitrokopie wiederentdeckt, umkopiert, vom Staatlichen Filmarchiv der DDR erworben und ein Jahr später in Berlin aufgeführt wurde. Erst weitere fünfundzwanzig Jahre später tauchte noch ein Zensurkarte auf, die es erlaubte, die originalen deutschen Zwischentitel wieder in den Film einzufügen. Nun ist VON MORGENS BIS MITTERNACHTS in einer restaurierten Fassung auf DVD erschienen. Hinweis: Heute nach Mitternacht wird der Film auch auf Arte ausgestrahlt: 31.8.2010, 0:25-1:40 Uhr.

VON MORGENS BIS MITTERNACHTS wurde vom Filmmuseum München restauriert, wobei die nun neu eingefügten Zwischentitel von der wiederentdeckten Zensurkarte graphisch den im Film vorhandenen Kulissenaufschriften angeglichen wurden. Auf der nun herausgekommenen DVD in der bewährten "Edition filmmuseum" können gleich zwei Tonspuren gewählt werden: ein Live-Mitschnitt der 2008 auf den Internationalen Stummfilmtagen in Bonn aufgeführten Musik der Percussion-Gruppe SchlagEnsemble H/F/M (über die auf der DVD als einziges Extra auch eine kleine Dokumentation zu finden ist) sowie ein weiterer Live-Mitschnitt der 2009 in Köln aufgeführten Musikfassung des amerikanischen Dirigenten und Komponisten Yati Durant. Zusätzlich zu den deutschen Zwischentiteln lassen sich noch englische, französische und spanische Untertitel hinzuschalten: eine vorbildliche Ausstattung, die es auch anderssprachigen Filmfans ermöglicht, diesen seltenen deutschen Film zu rezipieren. Wie üblich gibt es zur DVD auch noch ein schönes Booklet mit einigen, zum Teil schon zuvor veröffentlichten, Texten zum Film.

Die Hauptsache aber ist der Film selbst, der nun endlich auf DVD vorliegt: Experten halten ihn für den bedeutendsten der expressionistischen Filme, die Anfang der Zwanziger Jahre nach CALIGARI in Deutschland entstanden sind. Lotte Eisner schrieb, "rein expressionistisch ohne Einschränkung" seien überhaupt nur CALIGARI, die dritte Episode des WACHSFIGURENKABINETTS (1924) und eben Karlheinz Martins VON MORGENS BIS MITTERNACHTS. Das Interessante an diesem Film ist, dass hier, im Gegensatz zu CALIGARI, wirklich expressionistische Künstler einen expressionistischen Film gemacht haben: Mit dem Theaterregisseur Martin kam auch sein Bühnen- und Kostümbildner Robert Neppach zum Film, und als Schauspieler sehen wir neben dem archetypischen expressionistischen Bühnendarsteller Ernst Deutsch in der Hauptrolle auch den expressionistischen Schauspieler und Schriftsteller Hans Heinrich von Twardowski, der schon in CALIGARI mitgespielt hat, und Filmstar Erna Morena, über die vor kurzem eine Monografie bei Belleville erschienen ist. Gleich im Anschluss an VON MORGENS BIS MITTERNACHTS drehte Martin einen weiteren radikal expressionistischen Film, DAS HAUS ZUM MOND, und die Decla-Film-Gesellschaft, die CALIGARI herausgebracht hatte, produzierte, ebenfalls noch 1920, einen weiteren kommerziellen expressionistischen Film, GENUINE. Auch diese beiden Filme wurden keine Erfolge mehr, sind aber ebenfalls großartige Zeugnisse einer wilden Zeit, die wir uns gerne auch noch auf DVD wünschen.

Eine Kuriosität an VON MORGENS BIS MITTERNACHTS ist noch die Schreibweise des Filmtitels, mit oder ohne "s": Lange Zeit wurde der Film in der Literatur "Von morgens bis Mitternacht" genannt, was völlig korrekt geschrieben ist, aber schon deshalb Stirnrunzeln auslöste, weil die Temporalbezeichnungen unterschiedlichen Wortarten angehören (und zwar ist "morgens" ein Adverb und "Mitternacht" ein Substantiv). Nun heißt es wieder, wie auch Kaisers Vorlage und der ursprüngliche Filmtitel, "Von morgens bis mitternachts", was allerdings ebenfalls seltsam ist, da "morgens" hier einen unbestimmten Zeitraum ("irgendwann morgens"), "mitternachts" aber normalerweise nur einen wiederkehrenden Zeitpunkt ("immer mitternachts") bezeichnet. Vielleicht nehmen wir's einfach als expressionistischen Sprachstil, der sich nicht um solche Konventionen schert.

OLAF BRILL
30 Aug 2010

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filmhistoriker.de, edited by olaf brill.

Last update (this page): 30 Aug 2010.

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