BOOK REVIEW

Frederick C. Wiebel, Jr.
Edison's Frankenstein

Duncan, OK: BearManor Media 2010
275 Seiten, englischer Text, zahlreiche Abbildungen
ISBN 9781593935153

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    Edison's FRANKENSTEIN

Heute vor genau einhundert Jahren wurde ein Monster erschaffen: Der erste FRANKENSTEIN-Film flimmerte über die Kinoleinwände des jungen 20. Jahrhunderts. FRANKENSTEIN? Da denken wir natürlich an Boris Karloffs Monster in James Whales Film aus dem Jahr 1931. Doch Horror- und Filmexperten wussten schon seit längerer Zeit, dass es bereits mehr als zwanzig Jahre zuvor, als das Medium Film sich noch nicht zum langen, "abendfüllenden" Spielfilm entwickelt hatte, einen Leinwand-FRANKENSTEIN gab: Die Produktionsgesellschaft des Glühbirnen-Erfinders und Unternehmers Thomas Alva Edison, die zu dieser Zeit Kurzfilme als Dutzendware produzierte, hatte 1910 als "Film No. 6604" eine nur etwas über zehn Minuten lange "freie Adaption" des Buches von Mary Shelley herausgebracht.

EDISON'S FRANKENSTEIN galt lange Zeit als "lost film". Alles, was wir von ihm kannten, war ein Titelblatt des Edison Kinetogram, des Hausorgans der Edison-Studios, vom März 1910. Dieses jedoch regte die Phantasie der Horrorfans und Filmhistoriker an: Es zeigte den amerikanischen Schauspieler Charles Ogle als scheußliches Monster mit hohem, quaderförmigen Kopf, wirren, abstehenden Haaren, einem gräßlich verzogenen Mund und langen, krallenartigen Fingern. Wie dieser Film schließlich doch noch gefunden und wiederaufgeführt wurde, und die Entstehungsgeschichte dieses ersten FRANKENSTEIN-Films berichtet Fred Wiebel in seinem Buch, von dem Forrest J Ackerman gesagt hat, es sei das Buch, auf das er sein Leben lang gewartet habe.

In einem ersten Kapitel (S. 10-45) beschreibt Wiebel die Aufstiegsgeschichte der Edison-Studios seit Edisons ersten Filmexperimenten im Jahr 1888, siebzig Jahre nach dem Erscheinen des FRANKENSTEIN-Romans. Edison, so schreibt Wiebel, war selbst eine Art Dr. Frankenstein, der mit seinen Filmen versuchte, Leben wieder zu erschaffen (S. 12). Interessant ist, dass ausgerechnet in Edisons FRANKENSTEIN die Erschaffung des Monsters eher durch Alchemie und Magie als durch Wissenschaft und Elektrizität erfolgt, wie wir es aus späteren Adaptionen kennen. Wiebel vermutet, der Wissenschaftler Edison wollte bewusst zeigen, dass die Entstehung des Monsters nicht durch Wissenschaft, sondern durch menschliche Fehler zustande kommt (S. 44). Die entscheidende Bedeutung der Elektrizität bei der Erschaffung des Monsters kam dann erst 1931 durch Whales FRANKENSTEIN in die Filmgeschichte.

Ein weiteres kurzes Kapitel befasst sich mit Mary Shelley und ihrem Roman (S. 47-57). Im Folgekapitel "The First Frankenstein Motion Picture" (S. 59-79) wird dann Edisons Film besprochen und mit dem Roman verglichen. Charles Ogles Darstellung des Monsters wird in die Tradition der Theater-Adpationen des Stoffes im 19. Jahrhundert eingeordnet, die das Monster mit geschminktem Gesicht und langen schwarzen Haaren darstellten. Ogle ging aber, so Wiebel, über diese Darstellungen weit hinaus (S. 73-74) und schuf somit das Urbild des kinematographischen Frankenstein-Monsters, das schließlich durch Karloffs Darstellung in Whales FRANKENSTEIN ein ikonisches Bild der Filmgeschichte wurde. Großer Platz wird den Biografien der Darsteller eingeräumt (S. 80-141): Wer kennt schon Augustus Phillips (Frankenstein), Charles Ogle (Monster) und Mary Fuller ("The Sweetheart" aka Elizabeth), die in Hunderten von Filmen mitgespielt haben?

Das Hauptkapitel des Buchs "The Making of Frankenstein" (S. 142-187) befasst sich zunächst mit dem Regisseur und Produzenten J. Searle Dawley und beschreibt dann die Entstehungsgeschichte des ersten FRANKENSTEIN-Films, die Wiebel detailliert recherchiert hat. Als Grundlage dient ihm eine Vielzahl von Dokumenten, die er in jahrelanger Forschungsarbeit aufgespürt hat, und die uns erlauben, die Geschichte dieses Films von der Vorproduktion über die Dreharbeiten bis zur Nachproduktion nachzuvollziehen. So wird nicht nur Dawleys FRANKENSTEIN-Szenario komplett abgedruckt (S. 170-171, Faksimile der ersten Seite auf S. 155), sondern auch Anweisungen zur Musikauswahl (S. 175-176) und Einfärbung des Films (S. 179-182).

Schließlich verfolgt Wiebel die Rezeption des Films von zeitgenössischen Rezensionen bis zu den späteren Film-Adaptionen, die im 20. Jahrhundert die Leinwände füllten (S. 188-240). Und im letzten Kapitel "Released, Lost, Found and Resurrected" (S. 241-264) wird die erstaunliche Geschichte der Wiederentdeckung des Films erzählt, die auch ein eigenes Buch füllen könnte: Zentrale Figur dabei ist der Filmfan Al Dettlaff, der in den 1950er Jahren die offenbar einzig erhaltene Kopie des Films, eine 35mm-Kopie auf Nitratfilm, aus dem Archiv eines privaten Filmsammlers erwarb und sich dann darum bemühte, sie zu restaurieren und wiederaufzuführen, jedoch stets darauf bedacht war, dass sein Name mit diesem Film verbunden sein und er damit Geld verdienen können würde. Als er 2005 starb, war die in seinem Besitz befindliche ursprüngliche Filmkopie zunächst unauffindbar (wurde aber inzwischen von der Familie wiedergefunden).

Heute kann man EDISON'S FRANKENSTEIN leicht im Netz finden, herunterladen und ansehen, zum Beispiel auf Youtube oder Archive.org. Bei diesen Versionen handelt es sich jedoch um Kopien der dritten oder vierten Generation, die von Videokopien gemacht wurden, die von einer 16mm-Kopie von Dettlaffs Kopie gezogen wurden. Eine wesentlich bessere Version ist vom Autor auf DVD veröffentlicht worden ( Fred Wiebels Facebook-Seite). EDISON'S FRANKENSTEIN ist also einer jener, ehemals "verlorener" Filme, die wiederentdeckt wurden und heute jedermann zugänglich sind. Er ist ein Beleg für einen Leitsatz, den jeder Filmwissenschaftler kennen sollte: Wann immer man glaubt, irgendein großes Werk zu kennen, das zum Ausgangspunkt filmhistorischer Entwicklungen wurde (in diesem Fall Whales FRANKENSTEIN), kann man dazu auch einen Vorläufer finden, der bisher wenig beachtet wurde (in diesem Fall EDISON'S FRANKENSTEIN).

OLAF BRILL
18 Mar 2010

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filmhistoriker.de, edited by olaf brill.

Last update (this page): 18 Mar 2010.

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