BOOK REVIEW

Ralf Beil, Claudia Dillmann (Hg.)
Gesamtkunstwerk Expressionismus
Kunst, Film, Literatur, Theater, Tanz
und Architektur 1905-1925

[Katalog zur Ausstellung auf der
Mathildenhöhe Darmstadt,
24.10.2010-13.2.2011]
Ostfildern: Hatje Cantz 2010
512 Seiten, deutsch, zahlreiche Abbildungen
ISBN 9783775727129
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Englische Ausgabe:
Total Artwork Expressionism
Art, Film, Literature, Theater, Dance
and Architecture 1905-1925

ISBN 9783775727136
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Audioguide zur Ausstellung:
Kunst zum Hören
Gesamtkunstwerk Expressionismus
Kunst, Film, Literatur, Theater, Tanz
und Architektur 1905-1925

Ostfildern: Hatje Cantz 2010
58 Seiten, deutsch, mit Audio-CD, ca. 72 Min.
ISBN: 9783775727266
Hörprobe 1
Hörprobe 2
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Englische Ausgabe:
Art to hear
Total Artwork Expressionism
Art, Film, Literature, Theater, Dance
and Architecture 1905-1925

ISBN: 9783775727273
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    Gesamtkunstwerk Expressionismus

Etwa hundert Jahre nach dem Aufstieg der expressionistischen Strömung in der Kunst ist Expressionismus jetzt wieder in aller Munde. Erst vor drei Jahren wurde Rudolf Kurtz' Standardwerk Expressionismus und Film in der Schweiz wieder aufgelegt, im September fand in Berlin die Somnambule statt, und seit Oktober ist auf der Mathildenhöhe Darmstadt die große Ausstellung Gesamtkunstwerk Expressionismus zu sehen, Teil des vom Kulturfonds Frankfurt RheinMain initiierten und gemeinsam mit zwanzig Partnern durchgeführten Projekts "Phänomen Expressionismus", zu dem es bis 2012 noch zahlreiche weitere Veranstaltungen in Hessen geben wird. Ausstellung und Projekt streben nicht weniger an als eine Neuentdeckung des Expressionismus, und zwar als "Gesamtkunstwerk", das heißt in Anlehnung an den von Richard Wagner 1849 postulierten Begriff, nach dem die verschiedenen Kunstdisziplinen nicht isoliert betrachtet werden sollen, sondern erst in enger Verflechtung und disziplinübergreifender Wechselwirkung ein Kunstphänomen schaffen. Der Expressionismus, so erklären die Ausstellungsmacher, ist diejenige Kunstströmung, die den Anspruch des Gesamtkunstwerks am ehesten einlöst. So kommt es in den Jahren 1905 bis 1925 zu einer Verflechtung von Malerei, Literatur, Theater, Tanz, Musik, Architektur − und natürlich auch Film.

In der Präsentation der Ausstellung wird dem Medium Film sogar eine zentrale Rolle zugestanden: Auf Plakat und Katalog-Titelbild blickt uns der Somnambule Cesare aus dem CABINET DES DR. CALIGARI entgegen, und Buch- und Kapitelüberschriften sind mit dem Zeichensatz aus demselben Film gestaltet. Der Moment, in dem Cesare aus seinem ewigen Schlaf erwacht und, erst langsam und mit zitternden Lidern, dann weit und entsetzt die Augen aufmacht, ist ein zentraler Moment im expressionistischen Stummfilm und tatsächlich auch gut geeignet, stellvertretend für die gesamte Kunst des Expressionismus zu stehen, sie buchstäblich in einem Augenaufschlag zu manifestieren. Damals, als dieser Film herauskam, im Jahr 1920, sahen manche Expressionisten es durchaus mit Widerwillen, wie sich das neue Medium ihre Kunst zu eigen machte: Der Film, so insinuierte etwa Herwarth Walden, plagiiere nur, was die wirklichen Künstler im Jahrzehnt zuvor geschaffen hatten. Tatsächlich trat der expressionistische Film genau zu der Zeit auf, in der die einstmals avantgardistische Kunst kommerzialisierbar wurde: DAS CABINET DES DR. CALIGARI war ein kommerzieller Publikumsfilm, kein Avantgarde-Werk.

Dennoch gehört eben auch der Film zum Gesamtbild der expressionistischen Kunst. Er ist 1.) das Medium, das den Expressionismus einem breiten Publikum zugänglich machte. Dabei entstanden 2.) aber nicht nur kommerzielle Plagiate, sondern auch genuine Kunstwerke, etwa die Georg-Kaiser-Adaption VON MORGENS BIS MITTERNACHTS des Bühnenregisseurs Karlheinz Martin: ein Film, der so radikal expressionistisch war, dass er nicht einmal einen kommerziellen Verleih fand. Und 3.) zeigt sich im Medium Film besonders klar das Ineinandergreifen der verschiedenen Künste. Denn die Bühnenbilder des expressionistischen Films waren ja angeregt von der expressionistischen Malerei und dem expressionistischen Theater; und Künstler, die in dem einen Medium gearbeitet hatten, versuchten sich auch in dem anderen. So holte zum Beispiel Martin für VON MORGENS BIS MITTERNACHTS Künstler zum Film, mit denen er vorher erfolgreich im expressionistischen Theater zusammengearbeitet hatte, etwa den Bühnenbildner Robert Neppach und den Schauspieler Ernst Deutsch. (Kaisers Stück wird übrigens jetzt im Rahmen des Expressionismus-Projekts unter der Regie von Axel Richter mehrfach im Staatstheater Darmstadt aufgeführt; nächste Vorstellung: 17.12.2010).

Zur Ausstellung auf der Mathildenhöhe Darmstadt ist ein gewaltiger, kiloschwerer und reich illustrierter Katalog im auf prächtige Kunstbände spezialisierten Hatje-Cantz-Verlag erschienen; ein Buch, das in Händen zu halten Freude bereitet. Darin finden sich zahlreiche neue Essays, in denen Spezialisten auf dem neuesten Stand der Forschung Überblicke zu den verschiedenen Disziplinen, Hintergründen, Werken und Protagonisten der expressionistischen Kunst liefern. So erfahren wir etwas über Weltkrieg, Kunsttheorie, Oper, Architektur, Großstadt, Psychoanalyse, Kokain, Film, Theater, Musik, Tanz und vieles mehr, und so erweist sich der Expressionismus wahrlich als ein Phänomen, das sich nur im Zusammenwirken all dieser Dinge vollständig erfassen lässt. Daneben ist auch eine große Anzahl zeitgenössischer Texte vom oder über den Expressionismus abgedruckt: von programmatischen Schriften und Gedichten über Ausschnitte aus Dramen, Film- und Musikkritiken zu Briefen, Tagebuchauszügen und vielem mehr.

Highlights des Buchs sind aber natürlich hunderte von Abbildungen, die den Expressionismus visuell erfassbar machen: Titelseiten, Buchumschläge, Fotografien, Gemälde, Zeichungen, Plakate, Bühnenbildentwürfe, Notenblätter, Feldpostkarten, Tagebuch-Auszüge, Filmbilder usw. usf. Besuch der Ausstellung und Blättern im Katalog eröffnen eine Informationsfülle, die in ihrer Komplexität kaum zu erfassen ist und wohl Jedem, der sich Buch oder Ausstellung ansieht, noch etwas Neues zu bieten hat: Da finden sich die großartigen Fotografien, die Ernst Ludwig Kirchner 1915 in seinem Atelier in Berlin-Friedenau aufgenommen hat und die uns unmittelbar expressionistisches Lebensgefühl vermitteln (ab S. 78), da werden die vergessenen expressionistischen "Künstlerfeste" gewürdigt, die zwischen 1914 und 1924 in Hamburg stattfanden (ab S. 426), da wird Ludwig Sieverts Bühnenbildenwurf zum Stück "Penthesilea" einem Motiv aus CALIGARI gegenübergestellt (S. 330/331), und Paul Citroëns Collage "Metropolis" aus dem Jahr 1923 (S. 205) und Ludwig Mies van der Rohes Hochhausentwurf aus dem Jahr 1921 (S. 209) deuten an, dass Fritz Lang nicht erst nach Amerika reisen musste, um zu seinem berühmtesten Film METROPOLIS angeregt zu werden. Besser geht es nur, wenn man sich all diese Dinge direkt in der Ausstellung im Original ansieht. Also auf nach Darmstadt!

Der Ausstellungs-Besucher und Katalog-Leser kann auch selbst auf Entdeckungsreise gehen und Zusammenhänge finden, die nicht zuvor für ihn aufbereitet wurden. Da findet sich etwa auf S. 174 die beiläufige Bemerkung, der zeitgenössische Stummfilm sei nicht nur vom Theater inspiriert worden, sondern in einer Rückwirkung habe sich auch das Theater vom expressionistischen Film inspirieren lassen. So waren zahlreiche Bühnen-Dekorationen nach CALGARI an die Bilder aus diesem Film angelehnt. Auf S. 176 und 183-185 sehen wir dann Bühnenbildentwürfe Ernst Sterns zur Uraufführung des Lasker-Schüler-Stücks "Die Wupper", die tatsächlich aussehen als seien sie direkt aus dem CABINET DES CR. CALIGARI. Hat Stern sich etwa durch CALIGARI inspirieren lassen? Auf S. 472 erfahren wir die Wahrheit: "Die Wupper" wurde bereits im April 1919 uraufgeführt, also nicht nach CALIGARI (Februar 1920), sondern ziemlich genau eine Woche nachdem die Decla gerade erst das CALIGARI-Drehbuch angekauft hatte, das noch völlig frei von Expressionismus war. Vielleicht war also die "Wupper" umgekehrt die eigentliche Inspiration für die CALIGARI-Kulissen?

Zusätzlich zum Katalog ist in der Reihe "Kunst zum Hören" auch noch ein kleines Büchlein mit CD erschienen, ein Audioguide zur Ausstellung, in dem zwei Sprecher die abgebildeten Exponate beschreiben und so die Geschichte des Expressionismus in seinen vielen Facetten nachvollziehen. So kann man die CD hören und gleichzeitig in dem Büchlein blättern. Nur schade, dass das Audio-Medium nicht auch genutzt wurde, um Musikstücke zu präsentieren, z. B. von Paul Hindemith oder Giuseppe Becce. Ein Audioguide zur Ausstellung, so wie der Katalog und das Hörbuch in deutscher und englischer Sprache verfügbar, sowie ein Kinder-Audioguide sind auch an der Museumskasse zu erwerben. Und damit noch nicht genug: Ein weiteres Begleitprodukt ist ein 25-minütiger Film zur Ausstellung, der auf DVD ebenfalls an der Museumskasse erworben werden kann. Zuletzt sei noch darauf hingewiesen, dass auch der Katalog an der Museumskasse deutlich günstiger zu erwerben ist als im Buchhandel (€ 45 statt € 58). Auch das ein Grund, sich die Ausstellung direkt anzusehen.

Ein gewaltiges Projekt, das sich niemand entgehen lassen kann, der sich für Expressionismus interessiert.

OLAF BRILL
09 Dec 2010
Zur Ausstellung
Flyer (2,88 MB)
Video (3 Min., 17,4 MB)

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filmhistoriker.de, edited by olaf brill.

Last update (this page): 09 Dec 2010.

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